Liebe Anne,
danke für Deinen Brief. Und Herr D. aus D., Dank Ihnen für Ihre Gedanken!
Erst einmal zu Dir, Anne: Bei der Lektüre Deiner Zeilen hüpfte die Abenteurerin in mir wütend auf und ab (so richtig rumpelstilzchenesk mit hochrotem Gesicht und geballten Fäusten), als sie sich vorstellte, dass eine algorithmendurchdrungene Zukunft uns jedes Zufalls berauben könnte, bis hin zur Getränkeauswahl. „NÖ!“, brüllte sie empört, „mit mir ja schon mal gar nicht, soweit kommt’s noch!“ Es folgten unflätige Ausdrücke, die ich hier zur Qualitätssicherung des Briefes zensieren muss. Danach, als sie sich ein bisschen abgeregt hatte, gedachten wir bei einem beruhigenden Fencheltee all der Zufälle, die bisher in unser Leben gespült worden waren.
So ein Zufall bist Du, Anne. Ich hätte damals ebensogut ein anderes Hauptseminar wählen oder mich ganz nach vorne im Seminarraum setzen können. Dann hätten wir nicht Seite an Seite gesessen, ich hätte Dich nicht angelächelt, und Dich, als Du zurücklächeltest, nicht angesprochen. In der Woche darauf hätte ich Dir vor Seminarbeginn nicht mein Thesenpapier gezeigt, und das alles zusammen hätte nicht zu einem mehrstündigen Kaffeedate am Markt geführt, wo wir herausfanden, dass wir so viel mehr als einen Namen teilen. Was hätte ich verpasst, wenn mir nicht irgendetwas im Vorlesungsverzeichnis geflüstert hätte, dass ich dringend etwas über das Pidgin Haitis lernen müsse, um im Leben gescheit voranzukommen?
Herr D., ein weiteres Beispiel einer chance encounter. (Ist das nicht ein toller Terminus? ‘Zufallsbekanntschaft’ sagen wir, aber das Englische schließt die Möglichkeiten – und im weiteren Sinne auch das das potentielle Glück – der Begegnung ganz offen im Begriff mit ein. Das gefällt mir.)
Ich lege an dieser Stelle für unsere Leser offen, dass ich Herrn D. persönlich kenne. Der Kontakt zu Herrn D. entstand durch Kontakt zu seiner wunderbaren Frau A., der sich wiederum durch Kontakt zum jungen Fräulein C. entwickelte, das sich unseres Kindes annahm, als es in der neuen Kita mit seinem Schnuffeltuch unsicher in einer Ecke stand. Hätte Fräulein C. stattdessen beschlossen, das Kind einfach links liegen zu lassen, wäre ich jüngst der Chance beraubt worden, ein verregnetes Wochenende in einem alten Kloster mit überbordendem Fressalientisch und improvisierten Gemäldeanalysen im Refektorium („Othello?“ – „Nee. Historisch.“ – „Oder was ganz anderes.“ – „Das da ist ein grübelnder Kardinal.“ – „Warum hat sie ihre Hand an seinem Po?“ – „Ich google das mal.“ – „Kein Netz.“ – „Eifel halt.“) zu verbringen, und ich möchte sie nicht missen.
In extenso führt das zu der irgendwie irren, aber schönen Konsequenz, dass das Dir bisher unbekannte Fräulein C. verantwortlich dafür ist, wo Du demnächst Silvester feierst, Anne. Und ja, natürlich können wir aufhören, Herrn D. zu siezen, und ihn einfach Dennis nennen.
„ABER!“ mischt sich die Sicherheitsbeauftragte in mir da unerwartet ein. „So ein Algorithmus könnte all die Leute, auf deren Kontakt man sehr gut verzichten kann, einfach im Voraus aus der Biografie herausrechnen und allein die sympathischen, kompatiblen Charaktere mit Mehrwert berücksichtigen. Was man sich da nicht alles für Ärger ersparen könnte! Beispiel? Gestern!“
Ich weiß genau, was sie meint, leider. Eine Dame an einem Serviceschalter hatte mich mit einer selten dagewesenen Hochnäsigkeit derart von oben herab behandelt, dass ich kurz davor war, wie im Film zu fragen: „Wissen Sie eigentlich, wer ich bin?“ (Zum Glück nahm ich davon Abstand. Das ist eine sehr dämliche Frage. Wer ist schon so erleuchtet, dass er wirklich weiß und im Zweifelsfall erklären kann, wer er ist?) Stattdessen blieb ich so freundlich, wie es mir möglich war, und ärgere mich nun im Nachhinein darüber. Ich hätte einfach den Chef verlangen sollen. Auf jeden Fall hätte ich gern auf die Begegnung verzichtet. Und da wäre es doch praktisch gewesen, wenn mir eine App im Vorherein bedeutet hätte, mich in die Schlange daneben zu stellen, um von dem jungen Typ mit dem grünen Ziegenbärtchen bedient zu werden. Der schien ganz vernünftig zu seinen Kunden zu sein.
„Siehste!“, sagt die Sicherheitsbeauftragte, lehnt sich zurück und legt weitere Beispiele nach. Den Exfreund. Den einen Professor aus dem Grundstudium. Die Busfahrerin neulich. Die Lästerschwester drei Häuser weiter. Sie hat einige Exempel parat, meine Sicherheitsbeauftragte, und resümiert schließlich: „Denen wärste dann nicht über den Weg gelaufen! Und in Zukunft würdest Du automatisch ferngehalten von allen Napfsülzen. Wäre das nicht praktisch?“
Ja. Wäre es das nicht? Chance schließt eben auch immer die Möglichkeit mit ein, dass man es mit potentiellen Deppen zu tun haben könnte, und prophylaktische Deppenvermeidung klingt erst einmal nach einem sehr sinnvollen Geschäftsmodell.
Aber welche Geschichten erzählen wir uns, wenn Algorithmen bestimmen, wem wir begegnen?
Hieß es bisher:
„Ich hätte nie diesen Blog gestartet, wenn ich mich damals nicht für das Seminar entschieden hätte.“
„Wenn die Kinder sich nicht befreundet hätten, wären wir nie im Kloster gelandet.“
… hieße es dann:
„Anne wurde als für mich freundschaftskompatibel berechnet.“
„Die App hat Dennis und seine Familie für uns in der Kita ausfindig gemacht.“
Hat das noch Zauber?
Hat das noch diesen kleinen magischen Augenblick des Wenn-ich-nicht-dann-hätt’-ich-nie der besonderen Begegnung, von dem wir in Momenten erzählen, in denen wir glauben, dass es das Leben gut mit uns meinte, indem es uns einen besonderen Menschen – oder gleich eine ganze Sippe – zutrug?
Oder anders (und mir ist bewusst, Dennis, dass ich den ursprünglichen Kontext zerfleddere, aber das Bild ist zu passend, um es nicht für meine Zwecke einzusetzen): Ist es nicht so, dass erst wenn der „Kontrollblick und der Ruf der planenden Vernunft weniger als eine Sekunde vorausgreifen“, die Formen von Begegnung möglich werden, an die wir uns erinnern und von denen wir später erzählen?
Nachdenklich bin ich
Deine / Eure Anne