Kategorie: Familie

Brief No. 27 – O du Bürokratische…!

Liebe Anne,

hast Du schon Deine vier Personen zusammen? Oder sind es etwa mehr? Sind Mehrgenerationenhäuser ein oder mehrere Haushalte? Wo bekomme ich jetzt noch einen Vaterschaftstest her? Oder reicht ein Corona-Schnelltest?

Fragen über Fragen. Dabei ist seit heute doch endlich alles klar und einheitlich geregelt. Ein Baum pro Haushalt, maximal zwei Meter hoch, außer der Adventskranz hat mehr als einen halben Meter Durchmesser, dann wird beides gegeneinander aufgerechnet. Ein bisschen wie bei Hartz IV oder Elterngeld.

Also alles wie immer. Es gibt mehr oder weniger eindeutige Regeln sowie die dazugehörigen Grauzonen, Auslegungs- und Umgehungsmöglichkeiten. Letztlich kann jeder selbst entscheiden, wie er sich dazu verhält.

Neu ist nur, dass die staatlichen Regeln nun eine Sphäre betreffen, in der bisher ein anderer Regeltypus vorherrschend war: Die familiären Regeln. Dass mit der Bescherung gefälligst bis nach dem Essen gewartet wird. Dass ein Baum ohne echte Kerzen kein echter Baum ist. Und dass Tante Erna spätestens nach dem ersten Glühwein die alten Geschichten aus ihrer Jugend auspackt.

Ist das ein Grund, sich das Weihnachtsfest verderben zu lassen? Hoffentlich nicht! Schön ist es trotzdem nicht. Wie wir wohl in ein paar Jahren über dieses Weihnachten 2020 sprechen werden?

Vielleicht heißt die neue familiäre Regel dann: Spätestens nach dem ersten Sekt packt Tante Anne die Geschichte vom Corona-Weihnachten aus.

Darauf einen vorweihnachtlichen Scotch
Deine Anne

Brief No. 2 – Der Griff zur Tasse…

Liebe Anne,

was für eine Ouvertüre! Sie gefällt mir. Politisch und lyrisch, humorvoll und voller Leidenschaft… Das wird gut.

Ich kenne die Tassen, die Du beschreibst. Sie werden gehalten von Frauen, die gesehen werden wollen, die etwas zu sagen haben, die den Schritt auf die Bühne wagen. Die aber, um auf dieser Bühne stehen zu dürfen, schön, warm, weich und weiblich sein müssen. Die sich unsichtbar machen, um gesehen zu werden. Um gemocht zu werden. Warm, wohlig, weich wie eine schöne Tasse Kaffee am Sonntagmorgen.

Sie werden gehalten von Frauen wie meiner Freundin, die sich neulich fragte, was ein Mann in ihrer Situation machen würde, als ihr die in Aussicht gestellte Führungsrolle plötzlich grundlos wieder entzogen und stattdessen einem Mann übertragen wurde.

Oder meiner anderen Freundin, die sich fragt, wie sie ihre beruflichen und mütterlichen Ambitionen unter einen Hut bringt, ohne auch nur auf die Idee zu kommen, das mit ihrem Mann zu besprechen. Weil sie es als ihre Aufgabe ansieht.

Oder meine ehemalige Arbeitskollegin, die ab dem ersten Ansatz von Babybauch plötzlich nicht mehr zu Meetings eingeladen wurde, weil sie ja “eh bald weg” ist.

Der Griff zur Tasse als gemeinsame weibliche Resignation? Zur Flasche wäre schließlich zu männlich.

Die Tasse steht aber vielleicht noch für etwas anderes. Wenn sie nicht gehalten wird, steht sie neben einem Laptop. In einem Café. Auf dem Beistelltisch. Dort, wo gut ausgebildete Frauen ihr Geld mit ihrem eigenen Business verdienen. Selbständig. Ohne das enge Korsett eines Nine-to-five oder Seven-to-ten-Jobs mit Präsenzkultur und gläsernen Decken. Im Home-Office oder am Café-Arbeitsplatz. Mit einer guten Tasse Cappuccino – vom Barista frisch aufgebrüht und mit Liebe verziert.

Sie greifen zur Tasse, weil sie es können.

Santé!

Deine Anne

P.S. Clooney hält seine Tasse anders. Selbstbewusst, männlich, mit frontalem Blick in die Kamera. Er setzt die Tasse in Szene. Nicht die Tasse ihn.