Kategorie: Literarisches

Leserbrief No. 2

Von: <dxxxxxxxxxxxx@gmail.com>
Gesendet: Samstag, 7. November 2019 23:12
Betreff: Liebe Anne “Brief No. 2”

Liebe Schreibende,

bei mir läuft Musik. Zu laut für eine Unterhaltung. Gerade so laut, dass die Eindringtiefe in das Hirn über das Ohr als angenehme 5 Zentimeter empfunden wird. Das Stammhirn spürt schon Vibrationen, aber keine Melodie. Der ganze Rest drumherum ist also beeinflusst, sozusagen übertönt. Zumindest ist kein Steuermann mehr im Gedankenstrom, der sich so recht durchsetzen kann. Der Kontrollblick und der Ruf der planenden Vernunft greifen nur weniger als eine Sekunde voraus und kaum mehr als ein wenig mehr zurück. Das Fenster wird eng. Nicht schlimm. Dazu ein Computer.

Schrecklich, mir jetzt meine Handschrift vorzustellen. Schrecklich, sich Widerstand zu wünschen (also sich sehen und sich spüren während dieses Schreibens). Das wäre, wie sich selbst in einer peinlich-intimen Situation hinter einem Vorgang verborgen zu beobachten. Ist man erzogen, will man lieber nicht da sein. Dabei ist die Situation natürlich weder dramatisch, noch ausschlaggebend. Die Sache selbst begründet nicht das Schamgefühl. Es hat keinen Anlass in einer irgendwie gearteten entstehenden Heiligkeit des schaffenden Moments. Da ist wenig Erhabenheit. (Die ja auch gar nicht gefordert oder auch nur behauptet wurde von den Briefeschreibenden).

Für mich eher die konsequente Kohärenz der Kleinbedeutendheit des Moments mit der Unwichtigkeit des Schreibers. Das ist nun nicht gut ausgedrückt, weil es – wiederum bei erzogenen Menschen – den Impuls zur Gegenrede oder zum schamhaften Zurücktreten auslösen müsste. Dabei ist es der Moment selbst, der angenehm ist. Der Rest ist Bühne. Ich bin das Vorher und Hinterher, die physische Funktion. Von mir ist wenig in den Lauf der Welt einzubringen. Relevanter ist, dass dieser Moment selbst ist – der einzige Unterschied zwischen Sein und dem Anderen. Insofern will ich mich nicht selbst berühren beim Schreiben von Worten. Keine Handschrift, kein Widerstand, keine Sehen auf die eigenen Finger. Schon tragisch für mich, dass ich in mich reinhorchen muss, um Worte zu finden. Dietrich Bonhoeffer (der sich nicht gegen wenig umsichtiges Zitieren von Bruchstücken wehren kann) schrieb den feinen Satz „Wer lernen will zu dienen, muss zuerst lernen, gering von sich selbst zu denken“ (Quellenangabe bei Bedarf gern). Und das schreibt er aus dem Interesse, das menschliche Antlitz aufzurichten. Dazu der schöne, wenn auch dunkle Satz eines anderen Theologen (Fulbert Steffensky): „Unsere Bedürftigkeit ist unsere Würde“. Soviel nur zu meiner Handschrift, weil die letzten beiden Briefe auch anregten, sich als Leser zu ihnen nicht nur inhaltlich, sondern auch zu ihnen als kommunikativem Ereignis und Vorgang in Beziehung zu setzen.

Die Musik hat übrigens geendet. Das Buch mit den Briefen Bonhoeffers liegt noch da. Der Bildschirm hält das Fenster zu dem Blog noch geöffnet. Eigentlich auch ganz gut, dass jetzt keiner mit mir spricht. Dann haben die entstehenden und entstandenen, die eigenen und fremden Worte eine Chance. Ich muss mal googlen, wie nah sich die Worte „kommunizieren“ und „Kommunion“ bringen lassen. Mach ich jetzt nicht, kann mich auch so freuen, dass „kommunizieren“ vielleicht auch als „sich ereignende Gemeinschaft“ verstanden werden kann, ohne dass dazu (direkter) Austausch notwendiges Kriterium sein muss. So wie „Teilen“ das „gemeinsame Nehmen aus dem Selben“ sein kann, ohne dass die Teilenden notwendig etwas direkt untereinander austauschen müssen. Ich habe mich (und das passt dann doch nicht ganz präzise) zu einem kommunizierenden Teilnehmer gemacht, indem ich etwas aus Euren Briefen, liebe Schreiberinnen, nehme und nicht etwas handschriftlich dazu tue. Insofern ist der Moment des Tastentippens eine durch Euren Blog ins Leben gerufene Teilnahme. Communio ex nihilo. Danke.

Aber weil das eigentlich Schöne an Euren Briefen ist, dass Neues entsteht und dazukommt, werde ich diesen Brief geschrieben haben und hinter dem Vorhang aushalten.