Kategorie: Kultur

Brief No. 30 – Theaterduft

Liebe Anne,

Du hast so wunderbar geschrieben, dass ich meinen Makronenneid direkt vergesse. Ich habe auch gerade gebacken, Mürbeteigplätzchen, leicht angesengt. Ich kann es einfach nicht. Das Kind sagt, die Kekse seien „relativ lecker“. Wie höflich.

Leicht fällt mir hingegen, Deine Frage zu beantworten, welchen Duft ich in Zeiten von Corona am meisten vermisse.

Theaterduft.

Und dabei meine ich nicht den Duft auf der Bühne und in den Kulissen, den Geruch nach Puder und Bohnerwachs, Trockeneis und Lampenfieber.

Ich habe den Theaterduft im Sinn, der mir als Zuschauerin in die Nase steigt, den Duft von Parfums und alten Samtbezügen, durchzogen von einer Note freudiger Gespanntheit und regenfeuchten schweren Mänteln, die sorgsam in Pflegschaft genommen an der Garderobe trocknen.

Mir fehlt das Theater und das ganze Drumherum: das Fertigmachen, ein schönes Kleid. Das Öffnen der Tür zum Empfangsbereich, das Stimmengewirr, das sich zu einem Murmeln, dann einem Flüstern, dann Stille senkt, wenn die Lichter im Zuschauerraum erlöschen. In der Pause das Nebenstück, das Beobachten der Theaterbesucher bei einem Glas Sekt, hier die lässige Jeansvariante, dort die große Robe, und ob das Collier wohl echt ist? Kinder, herausgeputzt, Ballettschüler?

Du siehst, es ist nicht nur der Duft. Es sind auch die Geräusche.

Das Rascheln von Organzastoff. Unterdrücktes Husten. Der Herr drei Plätze weiter schnarcht sich durch die zweite Halbzeit, Operette war noch nie so seins, aber ist halt im Abo mit drin, was soll man machen.

Theaterluft.

Gehst Du mit mir aus, wenn sich die Vorhänge endlich wieder öffnen?

Ich bin für alles offen, von Impro bis Oper.

Nur bitte nichts, was Corona thematisiert.

Von dem Theater hab ich mehr als genug.

Und nun zieh ich mein feinstes Kleid an und geh zum Supermarkt, Kekse kaufen. Das gute Stück muss an die frische Luft, bevor die Motten kommen.

Alles Liebe

Deine Anne

Brief No. 26 – Über Schönheit.

Liebe Anne,

ich schicke vorweg: Dieser Brief entstand, ohne dass ich mich vorher belesen hätte. Ich habe weder bei den Philosophen, noch bei den Psychologen oder Soziologen vorbeigeschaut, und die Historiker habe ich auch nicht befragt. Zahlreiche sehr kluge Menschen haben sich – da bin ich mir sicher – mit der Schönheit beschäftigt, und ich habe sie nicht konsultiert. Ich bin nicht in die Bibliothek gegangen, um meiner Frage hinterherzuforschen, und ich habe auch nicht gegooglet, noch nicht mal ein kleines bisschen. Ich hätte vielleicht auch einen Theologen fragen können. Hab’ ich aber auch nicht gemacht.

Stattdessen habe ich das getan, was im Englischen so schön mit ‘to sit with a question’ beschrieben wird. Leider gibt es dafür keine wirklich treffende deutsche Entsprechung. ‘Über etwas brüten’ vielleicht. Oder einfach ‘nachdenken’ oder ‘sinnieren’. Die englische Wendung beschreibt allerdings viel besser, wie ich versuchte, der Sache auf den Grund zu gehen: Um mich mit meiner Frage auseinanderzusetzen, setzte ich mich mit ihr zusammen.

Und da saßen wir dann.

“Wann findest du etwas schön?”, fragte die Frage.

“Wenn ich das wüsste!”, antwortete ich. “Deswegen sitz’ ich ja hier mit dir, um das herauszufinden!”

“Wann war das letzte Mal, dass du etwas besonders schön fandest?”, fragte die Frage.

“Das ist leicht”, sagte ich. “Gestern. Im Museum. Im Folkwang.”

“Ein Kunstwerk?”, fragte die Frage. “Cézanne?”, schob sie träumerisch hinterher.

“Öhm…”, sagte ich ertappt.

“Signac?”, versuchte die Frage weiter, mein ästhetisches Empfinden zu ergründen.

“Ja, also… auch. Klar. Tolle Meister, natürlich”, sagte ich und errötete etwas.

“Raus mit der Sprache!”, verlangte die Frage und streckte sich zu meiner Überraschung zu einem Ausrufezeichen.

“Huch!”, sagte ich.

“Nix huch, Butter bei die Fische!”, setzte die Frage nach und beugte sich leicht nach vorne. “Magst du es mir ins Ohr flüstern?”

“Die Tasche”, raunte ich verschwörerisch.

“Bitte?”, fragte die Frage wieder in gewohnter Fragemanier. “Welche Tasche denn? Seit wann ist im Folkwang eine Tasche unter den Exponaten?”

“War ja nicht im Museum direkt.”

“Sondern?”, fragte die Frage inquisitorisch.

“War… im Museumsshop”, flüsterte ich.

“Eine Tasche im Museumsshop war schöner als Renoirs Lise?”, fragte die Frage irritiert.

“Kann man das vergleichen?”, fragte ich.

“Moment, ich stelle hier die Fragen, oder?”, fragte die Frage.

“Auf jeden Fall war die Tasche so schön, dass ich sie gekauft habe”, versuchte ich eine Antwort.

“War sie teuer?”, fragte die Frage.

“Jedenfalls war sie günstiger als Renoirs Lise“, sagte ich ein bisschen trotzig.

“Das heißt überhaupt nichts, Lise ist natürlich unverkäuflich, wie du sicher weißt?”, trumpfte die Frage auf. “Kann ich sie mal sehen?”, fragte sie dann.

Ich holte die Tasche, die Tasche, dieses wunderschöne Stück, und reichte sie der Frage.

“Is this a handbag I see before me, the handle towards my hand?”, rezitierte die Frage in großer Geste. “Macbeth, haste erkannt?”, schob sie dann selbstzufrieden hinterher und erfreute sich an ihrem eigenen Witz. Ich ließ sie gewähren.

“Diese Tasche, schlicht, kastanienbraun, aus weichem Leder, nach Leder riechend, mittelgroß, rechteckig, mit silbernem Bügel und einem verstellbaren Schulterriemen?”, fragte die Frage nüchtern und reichte sie mir zurück. “Was an ihr empfindest du als besonders schön?”, fragte sie dann.

“Genau da beißt sich die Katze in den Schwanz!”, jammerte ich. “Das weiß ich nicht. Alles an ihr, alles zusammen! Das Ensemble, das Zusammenspiel, die Komposition, die Proportionen, was weiß ich! Sie ist einfach wunderschön, aber ich kann nicht benennen, warum!”

“Liegt die Schönheit nicht im Auge des Betrachters?”, fragte die Frage.

“Ja, ach was!”, rief ich. “Darum geht es ja! Was ist da in meinem Auge, das bewirkt, dass ich diese Tasche als schön empfinde? Warum empfinde ich diese Tasche als schön, während andere ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen an ihr vorbeigegangen sind?”

“Das kann ich dir so leider auch nicht beantworten, ich bin schließlich eine Frage und keine Antwort, das hast du doch wohl nicht vergessen?”, fragte die Frage streng.

“Du bist ja nicht besonders hilfreich”, maulte ich.

“Vielleicht solltest du doch jemanden fragen, der sich damit auskennt?”, schlug die Frage vor und stand dabei von der Couch auf. “Ich muss nämlich noch zu einem sehr wichtigen Weltkongress, da sind Fragen wie ich immer sehr gefragt.”

Und schwupps, weg war sie, und ich war keinen Deut schlauer.

Zum Glück kenne ich einen kurzen Weg zur Erleuchtung in Gegenständen philosophischer Natur.

Ich schreibe Dir einen Brief!

Was im Auge des Betrachters ist es, das die einen verzückt und die anderen die kalte Schulter zeigen lässt?

Liebe Anne, kannst Du mir weiterhelfen? Alleine tret’ ich auf der Stelle.

Alles Liebe

Deine Anne

P.S.: Ich hoffe, Du bist nicht auch auf einem sehr wichtigen Weltkongress. Falls ja, grüß mir die Frage!

Brief No. 23 – Spitzer Stift, gespitzte Ohren.

Liebe Anne,

oha. Miteinander reden. Zuhören. Da hast Du aber ein Fass aufgemacht. Mein vom Urlaub noch sandverkrustetes Hirn (jetzt echt mal! Strandsand kriecht einfach überall hin!), dessen herausforderndste Aufgabe in der letzten Woche darin bestand, die Strandmuschel vor den Augen schadenfroh lauernder Kurgäste lässig in den Strandmuschelsack zu falten („Schafft sie es? Schafft sie es?”), muss jetzt erstmal warmlaufen, um Deinen Gedanken würdig zu begegnen.

Wait for it…

Loading…

Still loading…

*Fahrstuhlmusik*

Updating, please wait…

Thank you for your patience!

Jetzt.

(Vielleicht.)

 

Liebe Anne,

oh ja.

Miteinander reden.

Das ist ein großes Thema, tagesaktuell und hochpolitisch, im Kleinen wie im  Großen, und mit erstaunlichen Parallelen auf allen Ebenen!

Da ich mich gerade als Dramaturgin übe, möchte ich das mal szenisch darstellen:

 

Szene 1

Am Frühstückstisch.

Auftritt Kind mit Haaren wie Vogelnest.

Mutter: Guten Morgen, Kind. Kakao?

Kind: Die Lilly hat viel mehr Barbies als ich.

Mutter: Hier, mein Schatz. Reicht Kakao. Ist der Schulranzen gepackt?

Kind: Schlürft Kakao. Ich spare jetzt auf die Meerjungfrauenbarbie mit Leuchtflosse.

Mutter: Prima. Kämm dich noch, bevor du losgehst, ja?

Kind: schlürft Kakao, grunzt Unverständliches.

Mutter: Du musst dich ein bisschen beeilen, es ist schon Viertel vor. Die Bürste liegt auf der Kommode im Flur.

Kind steht widerwillig auf und verlässt die Küche.

Wiederauftritt Kind.

Mutter: Du siehst ja immer noch wüst aus. Du solltest Dich doch kämmen!

Kind: Haste nicht gesacht.

Mutter: Hab ich.

Kind: Und wo ist bitteschön die Bürste? Immer musst du mich so hetzen. Und zu trinken hatte ich auch noch nix.

 

Szene 2

Am Frühstückstisch.

Auftritt Präsident mit perfekt geföhnten Haaren.

Stabschef: Good Morning, Mr. President. Hot Cocoa?

Präsident: Good morning. I am tremendously awesome.

Stabschef: Of course, Sir. Here, enjoy your cocoa.

Präsident: So awesome. Schlürft Kakao.

Stabschef: Certainly, Sir. May I give you your morning briefing?

Präsident: I’m gonna buy Greenland.

Stabschef: Wonderful, Sir. Now, as for Great Britain…

Präsident: I’m gonna grab Greenland by the pussy.

Stabschef: I’m sure, Sir. Yesterday, the Brexiteers…

Präsident: I’m gonna paint Greenland yellow. Just because I can.

Stabschef: Absolutely, Sir. May I now shift your attention to Europe?

Präsident: Europe? Why, is it for sale, too?

 

Die Familienszene ist bis auf leichte Schrammspuren am mütterlichen Nervenkostüm harmlos. Die Präsidentenszene ist es nicht. Satire hin oder her – es ist inzwischen vorstellbar, dass es im Weißen Haus genau so zugeht. Just because he can.

Und dazwischen, in der Kommunikation zwischen Fremden und Freunden, im  alltäglichen Miteinander? Wie Du beobachte ich, dass Menschen zunehmend im Sendemodus herumspazieren. Alle sabbeln, aber kaum einer hat seine Antenne auf Empfang gestellt. Bei Kindern ist das noch entschuldbar: verkürzte Aufmerksamkeitsspanne und allgemeines Morgenmuffeltum oder im ungünstigen Fall beides in Kombination.

Bei Erwachsenen gibt es keine Entschuldigung. Aber es gibt eine Erklärung. Verantwortlich sind die sozialen Medien. Ja, es ist so simpel. Soziale Medien sind nämlich null sozial. Sie sind Plattformen der Selbstinszenierung, die unser Feedbackvermögen auf einen Buttonklick reduzieren. Wir verlieren die Fähigkeit zuzuhören, weil unser Hirn sich daran gewöhnt hat, nur noch Ultrakurzrückmeldungen in Form von Daumen-, Herzchen- oder Smiley-Icons zu verarbeiten.

Alle wollen guten Empfang, aber keiner will zuhören.

Austausch kann man das nicht mehr nennen.

In den sozialen Medien werden wir vielleicht gesehen, wenn wir uns brav algorithmuskonform verhalten, aber wir werden nicht erkannt. Dafür braucht es den persönlichen Kontakt, für den wir uns Zeit nehmen müssen. Einen gemeinsamen Kaffee, zum Beispiel. Oder einen Brief.

Am Sonntag haben wir unseren ersten Leserbrief auf liebe-anne.de erhalten. Auf unseren Leserbriefschreiber, Herrn D. aus D., wirkt das Briefeschreiben wie eine „Lüftung von unerwarteter Seite“. Herr D., Hut ab! Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen, und zwar in mehrfacher Hinsicht:

In Ermangelung eines eigenen Büros bin ich heute im Baumarktcafé, um zu schreiben. Bereits auf der Radtour hierher wehte mir ein herbstkühles Lüftchen um Nase und Gedanken. Nun sitze ich hier neben einem Stapel Europaletten sowie festkochenden Kartoffeln im Tagesangebot, derweil Tiernahrung, Webergrills, Haustüren, Palmen und Holzzuschnitt an mir vorbeigeschoben werden, was die Ideen auf ganz neue Weise anschaukelt. Das Baumarktpersonal guckt freundlich bis irritiert. Hier sitzt man nicht, um zu schreiben. Hier verschnauft man kurz mit vier Säcken Spachtelmasse und neun Fliesenpaketen auf der Sackkarre, um alles kurz darauf in den Kombi zu hieven und das Gästebad komplett in Eigenregie zu renovieren. Vielleicht hält man mich für einen Spion – wie aufregend! Wie erfrischend!

Und dann ist da natürlich mein Füller. Ich habe ihn mir kürzlich genau für solche Gelegenheiten wie diese gekauft. Ich schreibe meine Texte häufig händisch vor. Kein Kabel behindert meinen Radius. Mein Mann nennt dieses altertümliche Schreiben auf Papier „Denken mit dem Stift“, was dem durchdigitalisierten „Homunculus“ in seiner verzerrt-demütigen Haltung vor einem seiner zahlreichen Gadgets ein willkommenes Gegenbild ist.

Und so schreibe ich und denke dabei an Dich, wie Du gerade auf dem Weg bist nach Bayern zu einem Termin, und ich überlege, ob Du wohl mit dem Zug gefahren bist, und ich frage mich, ob Du diesen Brief wohl heute noch lesen wirst. Und ich bin gespannt auf Deine Antwort, denn jetzt, genau in diesem Moment, „ist das Lauschen schon wichtiger geworden“, wie Herr D. es so schön beschreibt. Meine Gedanken sind auf den Weg gebracht. Ich freue mich schon sehr auf Deine!

Eine hinreichende Antwort, wie wir unser politisches System zum besseren diskursiven Miteinander bewegen können, kann ich abschließend leider nicht geben. Wer jedoch im Kleinen bei sich anfangen möchte gegenzusteuern, dem sage ich voll Überzeugung: Spitz den Stift, es spitzt die Ohren.

Alles Liebe

Anne