Schlagwort: Rollenbild

Brief No. 16 – Loslassen

Liebe Anne,

nachdem ich die letzten Wochen nicht dazu gekommen bin, Dir zu antworten, fällt es mir nun schwer, den Faden wieder aufzunehmen. Unsere ersten 15 Briefe waren wie ein Rausch. Deine Briefe lösten immer gleich etwas aus in mir, einen Gedanken, ein Gefühl, eine Idee. Gedanken, die raus wollten, die verbalisiert werden wollten. Schnellstmöglich habe ich Dir geantwortet und war ab da immer gespannt, wann und wie Du wiederum auf meinen Brief reagierst.

Dieser Flow ist nun unterbrochen. Ein bisschen aufgewärmt fühlt es sich an, wenn ich Deinen letzten Brief erneut lese und versuche, kluge Antworten auf Deine klugen Fragen zu finden. Ein bisschen so, wie wenn man versucht, die einzigartige Stimmung einer einmaligen Feier zu reproduzieren, indem man dieselben Leute zur selben Zeit im Jahr an denselben Ort einlädt. Doch die Stimmung von damals lässt sich nicht reproduzieren. Sie ist und bleibt einmalig.

Also habe ich beschlossen, gar nicht erst zu versuchen, den Flow aus unseren ersten Briefen wieder aufleben zu lassen. Weil er nur dann eine Chance hat, wieder oder neu zu entstehen. Erst wenn wir uns vom Idealbild lösen, hat das Abbild eine Chance, gut zu werden. Weil es dann kein Abbild mehr ist. Weil es dann etwas eigenes ist.

Wenn wir (Frauen) uns in (vermeintlichen) Gegensätzen beschreiben, wie Du es in Deinem letzten Brief beobachtet hast, dann scheint mir da viel Orientierung an Idealbildern zu herrschen. Wir wollen die ideale Mutter UND die ideale Karrierefrau sein. Wir wollen Luxus UND erhebende Entbehrung. Und halten das dann für individuell oder gar unkonventionell. Dabei ist es nur ein Potpourri konventioneller Idealbilder. Mächtiger Idealbilder, die uns gefangen halten in bestehenden Rollen und Klischees. Viele von uns beherrschen mehrere dieser Rollen und den permanenten Wechsel zwischen ihnen in Perfektion. Aber ist das wirklich ein Fortschritt?

Wenn ich ein Wort wählen müsste, wäre es wahrscheinlich Freiheit.

Wenn andere ein Wort für mich wählen müssen, sagen sie gelegentlich “unkonventionell”. Das gefällt mir. Und doch überrascht es mit mich jedes Mal, wenn es passiert. Dann frage ich mich, was an mir denn so unkonventionell ist.

Ich trage ziemlich gewöhnliche Kleidung, habe seit Jahren dieselbe unauffällige Frisur und lebe in einer äußerst konventionellen Wohnung mit geradezu erschreckend vielen rechten Winkeln. Ich schaue bis heute lineares Fernsehen – deshalb ärgere ich mich Sonntags immer noch, wenn Polizeiruf statt Tatort kommt, während andere sich längst vom Diktat der öffentlichen und privaten Fernsehanstalten befreit haben und stattdessen zu jeder beliebigen Tages- und Nachtzeit das schauen, was sie gemäß Algorithmus von Netflix und Co. wirklich schauen wollen. Aber wenn ich in einem Seminar am Spiel “Wir lernen uns kennen, indem wir Hypothesen übereinander aufstellen” teilnehme – dann sagen die Leute, ich sei vermutlich “unkonventionell”.

Ich nehme das als Kompliment. Und verstehe es so, dass man mir zutraut, Bestehendes zu hinterfragen. Konventionelle Idealbilder loszulassen. Frei zu sein. Das macht mich glücklich. Auch wenn ich weiß, dass ich in den allermeisten meiner alltäglichen Enscheidungen äußerst konventionell handle.

Liebe Anne, dieser Brief ist jetzt überraschend persönlich geworden. Das passiert schonmal, wenn dann plötzlich der Flow da ist. Ich freue mich auf Deine Antwort.

Deine Anne

Brief No. 15 – Wer sind wir, wenn wir alles sind?

Liebe Anne,

mit großem Bedauern habe ich vom Ableben Eures Staubsaugroboters erfahren. Wie nur konnte er die Treppenstufe übersehen? Soll ich Dir für die nächsten Tage meinen Staubsauger leihen? Dem ist hier total langweilig. Nicht ausgelastet. Der Arme.

Deine Argumentation, dass wir über unseren Individualismus verlernen, Kompromisse zu schließen, finde ich sehr überzeugend. Schließlich sind wir alle heute etwas GANZ BESONDERES und deswegen haben wir auch ganz besonders Recht. Warum man deswegen so im Internet rumschreien muss, ist mir allerdings ein Rätsel. Aber wenn es eine Schwarmintelligenz gibt, gibt es vielleicht auch das Gegenstück dazu. Und wie nennen wir dieses Gegenstück nun politisch korrekt? Fällt Dir was ein?

Die 200 Frauen gucke ich mir gerne mit Dir an, zumal, wenn es dazu Scones gibt! Sich mit einem Wort zu beschreiben, wie es ihre Aufgabe war, finde ich aber ganz schön schwierig. Im Moment würde ich „hungrig“ sagen, aber ich glaube, das verfehlt vermutlich die Aufgabenstellung. „Suchend“ vielleicht, und das nicht, weil ich heute morgen meine Hose nicht gefunden habe.

Ist Dir mal aufgefallen, dass Frauen sich und ihre Vorlieben oft in Gegensätzen beschreiben, wenn mehr als ein Wort erlaubt ist? „Ich mag den Luxus eines schönen Spa-Hotels, aber ich gehe auch echt gerne campen.“ Oder „Mein Stil? Ich mixe handverlesene It-Pieces mit Vintage-Teilen vom Flohmarkt.“ Oder „Die Karriere ist mir megawichtig, aber irgendwann will ich auch Kinder.“ (Tic toc.)

Ist das individuell? Ist das unentschieden? Oder ist das angepasst? Denn so eckt Frau nie an. Man stelle sich vor, sie würde sagen: „Dolce, ich trage Dolce und sonst nichts!“ Dann ist sie sofort ein Luxusweibchen. Wenn sie sagt: „Meine Klamotten sind alle vom Flohmarkt“, befürchte ich gerümpfte Nasen bei einigen Geschlechtsgenossinnen. Mit dem Spruch „Ich will das dicke Geld verdienen“ ist sie die seelenlose Karrierefrau. Wenn sie sich allerdings um Kinder und Heim kümmert, vergammelt ihr Diplom gerahmt über der Wickelkommode.

Wollen wir alles sein, weil wir abschätzige Bewertungen befürchten?

Sind unsere Dualismen vorauseilender Gehorsam gegenüber den Erwartungen anderer?

Können wir uns tatsächlich nicht entscheiden?

Was ist man, wenn man alles ist?

Für heute befinde ich, dass mein Wort „schaffend“ sein soll. Nicht, weil ich besonders viel wegschaffen würde, nein, nein, leider. „Schaffend“ meine ich im kreierenden, realisierenden Sinn. Ich hoffe, mit diesem Brief einen kleinen Schritt in diese Richtung getan zu haben.

Welches Wort wählst Du?

Alles Liebe

Deine Anne