Liebe Anne,
vierzehn Briefe in dreiundzwanzig Tagen… Wow! Wo soll das noch hinführen? Hm, mal sehen, denke ich mir, und zucke vergnügt mit den Schultern… 🙂
Über Deinen letzten Brief habe ich mich sehr gefreut, denn er hat mich ebenfalls zum Nachdenken gebracht. Auf den ersten Blick scheint es ein Widerspruch, dass wir einerseits so oft in Gegensätzen und Entweder-Oder-Entscheidungen denken (in der Politik, im Privaten, im Beruf), andererseits aber als Konsumenten von Wahlmöglichkeiten überschüttet und nicht selten überfordert werden.
Müsli ist ein gutes Stichwort. Frühstück überhaupt. Auswahl am frühen Morgen? Nein, Danke! Ich bekomme regelmäßig schlechte Laune, wenn ich aushäusig übernachte und morgens vor unzähligen Teesorten stehe (Ingwer-Zitrone, Melone-Holunder, Rooibos-Vanille – wer trinkt heute noch Rooibos-Vanille?!?), aber weit und breit kein stinknormaler, nicht aromatisierter schwarzer Frühstückstee zu sehen ist. Und jetzt komm mir nicht mit Darjeeling! Darjeeling wird nur wegen seines aristokratisch-wohlklingenden Namens angeboten. Wahrscheinlich ist Rooibos deshalb auch noch im Sortiment. Wobei das weniger aristokratisch klingt. Darjeeling und Earl Grey sind super! Nachmittags zum Kuchen oder Scone. Am frühen Morgen hätte ich gerne eine möglichst unauffällige, aber im besten Fall starke Ceylon-Assam-Mischung. Ich glaube, das nennt sich “English Breakfast Tea”. So ein Zufall! Beim Wachwerden will ich weder Entscheidungen treffen noch meine Geschmacksknospen trainieren. Im Wesentlichen will ich einfach nur hier sitzen und eine Tasse Tee trinken. Schließlich gibt es im weiteren Tagesverlauf genug herausfordernde Fragestellungen zu beackern und Stolpersteine zu umschiffen, die weitreichendere Konsequenzen haben als die Wahl meines Frühstückstees.
So gesehen erscheint es wenig verwunderlich, dass wir in den wichtigen Dingen nur noch schwarz-weiß denken, wenn wir unser Hirn schon zu 90% mit alltäglichen Konsumentscheidungen auslasten. Aber auch wenn sie mich morgens beim Frühstück quälen, sind diese Konsumentscheidungen, wie Du schreibst, natürlich viel ungefährlicher als die großen Fragen der Politik und des Lebens. Vielleicht sind wir von personalisierten Angeboten auch so verwöhnt, dass wir den Anspruch auf 100% Individualismus auf das Politische übertragen. Haben wir verlernt, miteinander zu verhandeln? Verlernt, um gute Lösungen zu ringen, die für die gesamte Gesellschaft tragbar sind? Betreiben wir politisches Cherry- bzw. Cranberry-Picking, wenn wir Koalitionsverträge als faule Kompromisse abtun, weil unsere Alltagserfahrung uns suggeriert, dass eine Wahl nur dann gut ist, wenn sie zu 100% unseren individuellen Wünschen entspricht? Die Welt ist bunt, und deshalb braucht sie bunte Lösungen, die aus einem Dialog von nuancierten Geschichten entstehen.
Zweihundert nuancierte Geschichten gibt es in einem wunderbaren Buch zu lesen und zu sehen, das ich neulich von zwei Freundinnen geschenkt bekommen habe. An dieses Buch musste ich denken, liebe Anne, als ich Deinen letzten Brief gelesen habe.
Es erzählt in Wort und Bild die Geschichten von zweihundert Frauen aus aller Welt, die Großes und Kleines bewegt haben, manche prominent, andere nicht. Zweihundert ausdrucksstarke Portraitfotos werden von ebenso ausdrucksstarken Antworten auf fünf wiederkehrende Fragen über Ziele, Wünsche, Träume und die Welt begleitet. Meine Lieblingsfrage: Wählen Sie ein Wort, das Sie beschreibt. Allein die Antworten auf diese letzte Interviewfrage zeigen, wie vielfältig das Leben und Erleben von Frauen auf dieser Welt ist. Keine einzige antwortet mit “Frau” oder “weiblich”. Auch nicht mit “Mutter”. Das Buch ist damit für mich auch ein Gegenentwurf zu den eintönigen Tassenbildern, über die wir uns noch vor einigen Tagen gemeinsam empört haben.
Liebe Anne, kennst Du dieses Buch oder das gleichnamige Projekt? Wenn nicht, müssen wir bei einem unserer nächsten Treffen unbedingt gemeinsam reinschmökern. Und wenn doch, dann auch. Vielleicht bei einer schönen Tasse Earl Grey. Und einem Scone!
Ich freue mich auf Deinen nächsten Brief.
Deine Anne
P.S. Über Twitter erreichte mich noch eine Serienempfehlung bzw. -warnung: Black Mirror. Das ist eine Reihe dystopischer Kurzgeschichten. Sehr gut und teilweise sehr schwer verdaulich.