Kategorie: Kunst

Brief No. 26 – Über Schönheit.

Liebe Anne,

ich schicke vorweg: Dieser Brief entstand, ohne dass ich mich vorher belesen hätte. Ich habe weder bei den Philosophen, noch bei den Psychologen oder Soziologen vorbeigeschaut, und die Historiker habe ich auch nicht befragt. Zahlreiche sehr kluge Menschen haben sich – da bin ich mir sicher – mit der Schönheit beschäftigt, und ich habe sie nicht konsultiert. Ich bin nicht in die Bibliothek gegangen, um meiner Frage hinterherzuforschen, und ich habe auch nicht gegooglet, noch nicht mal ein kleines bisschen. Ich hätte vielleicht auch einen Theologen fragen können. Hab’ ich aber auch nicht gemacht.

Stattdessen habe ich das getan, was im Englischen so schön mit ‘to sit with a question’ beschrieben wird. Leider gibt es dafür keine wirklich treffende deutsche Entsprechung. ‘Über etwas brüten’ vielleicht. Oder einfach ‘nachdenken’ oder ‘sinnieren’. Die englische Wendung beschreibt allerdings viel besser, wie ich versuchte, der Sache auf den Grund zu gehen: Um mich mit meiner Frage auseinanderzusetzen, setzte ich mich mit ihr zusammen.

Und da saßen wir dann.

“Wann findest du etwas schön?”, fragte die Frage.

“Wenn ich das wüsste!”, antwortete ich. “Deswegen sitz’ ich ja hier mit dir, um das herauszufinden!”

“Wann war das letzte Mal, dass du etwas besonders schön fandest?”, fragte die Frage.

“Das ist leicht”, sagte ich. “Gestern. Im Museum. Im Folkwang.”

“Ein Kunstwerk?”, fragte die Frage. “Cézanne?”, schob sie träumerisch hinterher.

“Öhm…”, sagte ich ertappt.

“Signac?”, versuchte die Frage weiter, mein ästhetisches Empfinden zu ergründen.

“Ja, also… auch. Klar. Tolle Meister, natürlich”, sagte ich und errötete etwas.

“Raus mit der Sprache!”, verlangte die Frage und streckte sich zu meiner Überraschung zu einem Ausrufezeichen.

“Huch!”, sagte ich.

“Nix huch, Butter bei die Fische!”, setzte die Frage nach und beugte sich leicht nach vorne. “Magst du es mir ins Ohr flüstern?”

“Die Tasche”, raunte ich verschwörerisch.

“Bitte?”, fragte die Frage wieder in gewohnter Fragemanier. “Welche Tasche denn? Seit wann ist im Folkwang eine Tasche unter den Exponaten?”

“War ja nicht im Museum direkt.”

“Sondern?”, fragte die Frage inquisitorisch.

“War… im Museumsshop”, flüsterte ich.

“Eine Tasche im Museumsshop war schöner als Renoirs Lise?”, fragte die Frage irritiert.

“Kann man das vergleichen?”, fragte ich.

“Moment, ich stelle hier die Fragen, oder?”, fragte die Frage.

“Auf jeden Fall war die Tasche so schön, dass ich sie gekauft habe”, versuchte ich eine Antwort.

“War sie teuer?”, fragte die Frage.

“Jedenfalls war sie günstiger als Renoirs Lise“, sagte ich ein bisschen trotzig.

“Das heißt überhaupt nichts, Lise ist natürlich unverkäuflich, wie du sicher weißt?”, trumpfte die Frage auf. “Kann ich sie mal sehen?”, fragte sie dann.

Ich holte die Tasche, die Tasche, dieses wunderschöne Stück, und reichte sie der Frage.

“Is this a handbag I see before me, the handle towards my hand?”, rezitierte die Frage in großer Geste. “Macbeth, haste erkannt?”, schob sie dann selbstzufrieden hinterher und erfreute sich an ihrem eigenen Witz. Ich ließ sie gewähren.

“Diese Tasche, schlicht, kastanienbraun, aus weichem Leder, nach Leder riechend, mittelgroß, rechteckig, mit silbernem Bügel und einem verstellbaren Schulterriemen?”, fragte die Frage nüchtern und reichte sie mir zurück. “Was an ihr empfindest du als besonders schön?”, fragte sie dann.

“Genau da beißt sich die Katze in den Schwanz!”, jammerte ich. “Das weiß ich nicht. Alles an ihr, alles zusammen! Das Ensemble, das Zusammenspiel, die Komposition, die Proportionen, was weiß ich! Sie ist einfach wunderschön, aber ich kann nicht benennen, warum!”

“Liegt die Schönheit nicht im Auge des Betrachters?”, fragte die Frage.

“Ja, ach was!”, rief ich. “Darum geht es ja! Was ist da in meinem Auge, das bewirkt, dass ich diese Tasche als schön empfinde? Warum empfinde ich diese Tasche als schön, während andere ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen an ihr vorbeigegangen sind?”

“Das kann ich dir so leider auch nicht beantworten, ich bin schließlich eine Frage und keine Antwort, das hast du doch wohl nicht vergessen?”, fragte die Frage streng.

“Du bist ja nicht besonders hilfreich”, maulte ich.

“Vielleicht solltest du doch jemanden fragen, der sich damit auskennt?”, schlug die Frage vor und stand dabei von der Couch auf. “Ich muss nämlich noch zu einem sehr wichtigen Weltkongress, da sind Fragen wie ich immer sehr gefragt.”

Und schwupps, weg war sie, und ich war keinen Deut schlauer.

Zum Glück kenne ich einen kurzen Weg zur Erleuchtung in Gegenständen philosophischer Natur.

Ich schreibe Dir einen Brief!

Was im Auge des Betrachters ist es, das die einen verzückt und die anderen die kalte Schulter zeigen lässt?

Liebe Anne, kannst Du mir weiterhelfen? Alleine tret’ ich auf der Stelle.

Alles Liebe

Deine Anne

P.S.: Ich hoffe, Du bist nicht auch auf einem sehr wichtigen Weltkongress. Falls ja, grüß mir die Frage!

Brief No. 14 – Zweihundert nuancierte Geschichten

Liebe Anne,

vierzehn Briefe in dreiundzwanzig Tagen… Wow! Wo soll das noch hinführen? Hm, mal sehen, denke ich mir, und zucke vergnügt mit den Schultern… 🙂

Über Deinen letzten Brief habe ich mich sehr gefreut, denn er hat mich ebenfalls zum Nachdenken gebracht. Auf den ersten Blick scheint es ein Widerspruch, dass wir einerseits so oft in Gegensätzen und Entweder-Oder-Entscheidungen denken (in der Politik, im Privaten, im Beruf), andererseits aber als Konsumenten von Wahlmöglichkeiten überschüttet und nicht selten überfordert werden.

Müsli ist ein gutes Stichwort. Frühstück überhaupt. Auswahl am frühen Morgen? Nein, Danke! Ich bekomme regelmäßig schlechte Laune, wenn ich aushäusig übernachte und morgens vor unzähligen Teesorten stehe (Ingwer-Zitrone, Melone-Holunder, Rooibos-Vanille – wer trinkt heute noch Rooibos-Vanille?!?), aber weit und breit kein stinknormaler, nicht aromatisierter schwarzer Frühstückstee zu sehen ist. Und jetzt komm mir nicht mit Darjeeling! Darjeeling wird nur wegen seines aristokratisch-wohlklingenden Namens angeboten. Wahrscheinlich ist Rooibos deshalb auch noch im Sortiment. Wobei das weniger aristokratisch klingt. Darjeeling und Earl Grey sind super! Nachmittags zum Kuchen oder Scone. Am frühen Morgen hätte ich gerne eine möglichst unauffällige, aber im besten Fall starke Ceylon-Assam-Mischung. Ich glaube, das nennt sich “English Breakfast Tea”. So ein Zufall! Beim Wachwerden will ich weder Entscheidungen treffen noch meine Geschmacksknospen trainieren. Im Wesentlichen will ich einfach nur hier sitzen und eine Tasse Tee trinken. Schließlich gibt es im weiteren Tagesverlauf genug herausfordernde Fragestellungen zu beackern und Stolpersteine zu umschiffen, die weitreichendere Konsequenzen haben als die Wahl meines Frühstückstees.

So gesehen erscheint es wenig verwunderlich, dass wir in den wichtigen Dingen nur noch schwarz-weiß denken, wenn wir unser Hirn schon zu 90% mit alltäglichen Konsumentscheidungen auslasten. Aber auch wenn sie mich morgens beim Frühstück quälen, sind diese Konsumentscheidungen, wie Du schreibst, natürlich viel ungefährlicher als die großen Fragen der Politik und des Lebens. Vielleicht sind wir von personalisierten Angeboten auch so verwöhnt, dass wir den Anspruch auf 100% Individualismus auf das Politische übertragen. Haben wir verlernt, miteinander zu verhandeln? Verlernt, um gute Lösungen zu ringen, die für die gesamte Gesellschaft tragbar sind? Betreiben wir politisches Cherry- bzw. Cranberry-Picking, wenn wir Koalitionsverträge als faule Kompromisse abtun, weil unsere Alltagserfahrung uns suggeriert, dass eine Wahl nur dann gut ist, wenn sie zu 100% unseren individuellen Wünschen entspricht? Die Welt ist bunt, und deshalb braucht sie bunte Lösungen, die aus einem Dialog von nuancierten Geschichten entstehen.

Zweihundert nuancierte Geschichten gibt es in einem wunderbaren Buch zu lesen und zu sehen, das ich neulich von zwei Freundinnen geschenkt bekommen habe. An dieses Buch musste ich denken, liebe Anne, als ich Deinen letzten Brief gelesen habe.

Es erzählt in Wort und Bild die Geschichten von zweihundert Frauen aus aller Welt, die Großes und Kleines bewegt haben, manche prominent, andere nicht. Zweihundert ausdrucksstarke Portraitfotos werden von ebenso ausdrucksstarken Antworten auf fünf wiederkehrende Fragen über Ziele, Wünsche, Träume und die Welt begleitet. Meine Lieblingsfrage: Wählen Sie ein Wort, das Sie beschreibt. Allein die Antworten auf diese letzte Interviewfrage zeigen, wie vielfältig das Leben und Erleben von Frauen auf dieser Welt ist. Keine einzige antwortet mit “Frau” oder “weiblich”. Auch nicht mit “Mutter”. Das Buch ist damit für mich auch ein Gegenentwurf zu den eintönigen Tassenbildern, über die wir uns noch vor einigen Tagen gemeinsam empört haben.

Liebe Anne, kennst Du dieses Buch oder das gleichnamige Projekt? Wenn nicht, müssen wir bei einem unserer nächsten Treffen unbedingt gemeinsam reinschmökern. Und wenn doch, dann auch. Vielleicht bei einer schönen Tasse Earl Grey. Und einem Scone!

Ich freue mich auf Deinen nächsten Brief.

Deine Anne

P.S. Über Twitter erreichte mich noch eine Serienempfehlung bzw. -warnung: Black Mirror. Das ist eine Reihe dystopischer Kurzgeschichten. Sehr gut und teilweise sehr schwer verdaulich.