Brief No. 12 – Gefangen im Entweder-Oder

Liebe Anne,

aber natürlich haben wir einen Staubsaugerroboter! Seit Jahren! Wenn Du wüsstest, was wir sonst noch alles haben… Es würde mich nicht wundern, wenn nächstes Jahr zu Weihnachten Sophia einzöge. Aber da streike ich. Das geht zu weit! Entschuldige, dass ich Dir am Mittwoch einen Bericht über die neuesten Haushalts-Gadgets schuldig geblieben bin. Da hatten wir wohl wichtigere Themen zu besprechen 🙂

Gerade bin ich auf diesen Artikel im Tages-Anzeiger gestoßen: Eine Rezension des neuen Buchs Die große Gereiztheit von Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen, in dem er zu erklären versucht, wie oder weshalb Shitstorms entstehen. Unter anderem sei dies auf die unmittelbare mediale Nachbarschaft unterschiedlicher Meinungen zurückzuführen, die andauernd Kollisionen und Konflikte erzeuge.

Die unmittelbare Nachbarschaft von Meinungen erzeugt Konflikte. Das scheint mir erst einmal ganz natürlich zu sein. Seltsam erscheint mir die Art, wie wir im Netz und anderswo mit diesen Konflikten umgehen. Die einzig bekannte Konfliktlösungsstrategie scheint der Kampf zu sein, der erst dann endet, wenn es einen eindeutigen Gewinner und einen eindeutigen Verlierer gibt. Wenn der Shitstorm sein Opfer zu Tode getrampelt hat. Wenn eine endgültige Entscheidung getroffen wurde zwischen Position A und Position B.

Wie zur Bestätigung der These werde ich am Ende des Artikels gefragt:

Lesenswert oder nicht? Entweder-Oder. Entscheide Dich! Oder willst Du nachfolgenden Lesern etwa zumuten, sich selbst ein Urteil zu bilden? Ja oder Nein? Null oder Eins? Kind oder Karriere? Schokolade oder Vanille? Freizügigkeit oder Obergrenze? Wohlstand oder Selbstverwirklichung? Daumen hoch oder runter? GroKo oder AfD? Raute oder Tasse? Lasst uns abstimmen. Du musst Dich entscheiden. Jetzt!

Wo sind die Grautöne geblieben?, frage ich mich da. Wann und wie haben wir verlernt, Nuancen zu sehen? Das Wort “Digitalisierung” bekommt so noch eine ganz andere Bedeutung: Die Einteilung der Welt in Entweder-Oder. Dabei liegen die guten Lösungen meist irgendwo dazwischen.

Zeit für die Grübelpose…

Deine Anne

Brief No. 10 – Digitalisierung: Eine Reading-List

Liebe Anne,

kennst Du Idiocracy? Das ist ein etwas überdrehter Film über eine vollkommen verblödete Gesellschaft im Jahre 2505. Wenn ich Deine Verdummungstipps so lese, brauchen wir vielleicht gar nicht so lange, bis wir diesen Zustand erreichen. Vieles davon setzt ein Großteil unserer Gesellschaft bereits sehr beflissen um. Ich auch. Zum Teil.

Wenn ich mir vorstelle, dass ich Deinen Brief in meiner Twitter-Community teile, spüre ich Gegenwind. Digitalisierung wird unter Menschen, die Wandel in Unternehmen und Wirtschaft vorantreiben, überwiegend positiv gesehen. Und wenn nicht positiv, dann als unausweichlich. Diese Sicht vertrete ich auch. Der technische Fortschritt wird sich nicht zurückdrehen lassen. Und das hielte ich auch für wenig erstrebenswert. Ich schätze es, dass ich mit meiner Buchhaltungssoftware meine Kontobewegungen den passenden Belegen zuordnen und die erforderlichen Daten direkt ans Finanzamt übermitteln kann. Mir gefällt es, dass ich dank Staubsaugerroboter sehr viel seltener als früher gründlich durchsaugen muss. Und über Twitter habe ich in den letzten Jahren viele bereichernde Kontakte geknüpft und Inhalte entdeckt.

Doch Dein letzter Brief hat mir einmal mehr die Kehrseite dieser Möglichkeiten vor Augen geführt. Nicht alles, was sich Digitalisierung nennt, ist auch ein echter Fortschritt im Sinne des Menschen. Was wir brauchen, ist “reflektierter Fortschritt”, wie Ranga Yogeshwar es in Nächste Ausfahrt Zukunft schreibt. Weder naiver Fortschrittsglaube noch aktionistische staatliche Reglementierung werden uns vor einer Dystopie wie sie in The Circle beschrieben wird, bewahren. Ich habe z.B. große Zweifel daran, dass die Europäische Cookie-Richtlinie wirklich zum Schutz von Nutzerdaten oder zu einem bewussteren Umgang mit ihnen geführt hat. Irgendwann kaufe ich noch aus Versehen ein E-Book über die 5 sicheren Wege zum Millionenumsatz als Life-Coach, in der Annahme, dass ich gerade das übliche Cookie-Pop-up wegklicke.

Reflexion ist also der Schlüssel, wie wir uns davor bewahren, in unser eigenes Verderben zu rennen. Zu dieser Reflexion können gerade die Geisteswissenschaften, die Kunst, die Literatur beitragen. Wenn man sie nicht gerade abschafft, weil sie keinen unmittelbar erkenn- und vor allem messbaren Nutzen für die (digitalisierte) Gesellschaft haben.

Welche Bücher fallen Dir ein, wenn es um eine kritische Auseinandersetzung mit technischem Fortschritt und Digitalisierung geht? Welche Filme und Serien empfiehlst Du unseren Lesern? Und welche empfehlen sie wohl uns? Ich würde mich freuen, wenn weitere Tipps per Kommentar unsere Reading-List ergänzen.

Mein letzter Lesetipp für heute: Die Physiker von Dürrenmatt. Ich hoffe sehr, dass es noch immer auf dem Lehrplan unserer Schulen steht. Denn es ist brandaktuell.

Ich freue mich auf Deinen nächsten Brief!

Liebe Grüße

Deine Anne

Brief No. 9 – Synapsenkollaps

Vielen Dank für Deinen Brief, liebe Anne! Ich habe ihn sehr gern gelesen, wenn er auch ein Clickbait der übelsten Sorte ist! Da wird man auf Deinen Beitrag geleitet, in der Überzeugung, nun endlich zu erfahren, wie man in fünf kurzen Schritten ordentlich verdummt, und dann ist da überhaupt gar keine Anleitung! Dann steht da intelligenter Kram! Große Enttäuschung. Aber ich kann helfen. Hier folgt also nun WIRKLICH ein Manual zur garantierten Verdummung. Und das tolle: Es besteht nur aus einem Schritt! Einem einzigen! Den kann sich jeder merken!

Schritt 1: Verlegen Sie Ihr Leben vom Analogen KOMPLETT ins Digitale.

Das war’s schon. Fertig. Befolgen Sie diesen einfachen Rat und Sie werden zuverlässig innerhalb nur weniger Wochen die Anzeichen eines sich anbahnenden Synapsenkollapses spüren.

Stellen Sie aber sicher, dass Sie auch wirklich JEDEN Bereich Ihres Lebens digital durchdringen.

Bereich Soziales:

Achten Sie darauf, mit Ihren Mitmenschen vorrangig über Social Media zu kommunizieren. Liken Sie wie wild und posten Sie auf Instagram täglich Fotos Ihres Frühstücks! Besonders wichtig ist es, auf wirklich allen Kanälen vertreten zu sein. Sie sind immer noch nicht bei Snapchat, der App für sich selbst zerstörende Videos, die man aber jederzeit abfilmen kann? Hoffungslos!

Bereich Einkauf:

Die Onlinemarketingspezialisten geben sich soviel Mühe, Ihr Verhalten im Netz zu tracken, deswegen machen Sie ihnen doch ruhig die Freude und kaufen Sie all Ihren Kram ganz bequem durch Klicks auf Werbeanzeigen, die – wie praktisch! Welch Zufall! – genau das anpreisen, was Sie vor einer Viertelstunde noch in die Suchmaschine gehackt haben.

Bereich Arbeit:

Schmeißen Sie Ihren Job und gründen Sie ein Online-Business, in dem Sie Geld mit E-Books im Selbstverlag und ähnlich nachhaltigem Quatsch verdienen. Tausende haben das schon vor Ihnen geschafft, und der Großteil von ihnen ist gerne bereit, sein Wissen durch einen Onlinekurs inklusive eines – huch! – E-Books gegen ein höheres dreistelliges Entgelt mit Ihnen zu teilen. Vorerfahrung ist überhaupt nicht nötig, nur „gaaaaanz viel Motivation und der feste Glaube an dein Produkt!“ Müssen Sie outsourcen, so stellen Sie ausschließlich virtuelle Assistenten ein (s. „Bereich Soziales“). Irgendein Geisteswissenschaftler wird sich schon finden, der zu Dumpingpreisen Ihre Texte lektoriert. Der ist wahrscheinlich gnadenlos überqualifiziert, hat aber sicher noch ein Tastenhandy, ist also selber schuld.

Bereich Bildung:

Der Erwerb von Wissen ist unnötig und nutzt das Gehirn ab. Wozu gibt es Suchmaschinen? Oberste Regel: keine Bücher! Noch einmal: keine Bücher! Bücher gefährden den Fortschritt der Verdummung ganz enorm. Sie nehmen Platz weg und haben die unangenehme Tendenz, vollzustauben. Sind Sie digitaler Nomade, werden Sie für Bücher ohnehin keinen Platz im Rucksack haben. Schauen Sie sich lieber ein niedliches Katzenvideo an, während Sie aufs Boarding für den Flug nach Ko Samui warten.

Bereich Organisation:

Alle Termine sind online in Clouds zu verwalten. So liegt Ihr Leben sicher gespeichert auf dubiosen Servern irgendwo im Ausland und kann ganz sicher nicht verlorengehen. Niemandem.

Bereich Technik:

Dass es technisch immer das Neueste vom Neuesten sein muss, versteht sich ja wohl von selbst, oder? Entscheiden Sie sich für die beliebten Apfelprodukte, werden Sie auf Neuerscheinungen (und Adapter) nie lange warten müssen. Geschenkt, dass das Synchronisieren der Daten die ganze Kalenderwoche 23 in Anspruch nimmt.

Bereich Gesundheit:

Betrachten Sie Natur und frische Luft mit großem Argwohn und turnen Sie, statt eine Runde durch den Park zu drehen, die Übungen des Instruktors ihres Online-Fitnessstudios vor dem heimischen Plasmabildschirm in der Sterilität Ihres Wohnzimmers nach. Ihr Fitnesstracker am Handgelenk wird Sie dabei genau überwachen. Sehr, sehr genau.

Bereich Haushalt:

Vernetzen Sie sämtliche Haushaltsgeräte mit Ihrem Smartphone und steuern Sie alles von unterwegs aus. Rolladen rauf, Rolladen runter. Ist unheimlich praktisch und garantiert sicher. Technik ist heutzutage schließlich unfehlbar! Und wann geht schon mal so ein Handy verloren? Oder kaputt, nachdem man die Zentralheizung gerade auf Vollbrütstufe ferngeregelt hat? Seien Sie darüber hinaus ganz vorn dabei, wenn es um intelligente Gadgets wie den Kühlschrank geht, der dem Smartphone erzählen kann, ob Butter einzukaufen ist oder die Spreewaldgürkchen alle sind. Spart alles Gehirnkapazität, die viel besser in Instagram-Frühstücksfotos und Katzenfilmchen investiert werden kann.

Eine neue Medien-Aufklärung

Anne, Du merkst, in mir schreit alles: JA! Wir brauchen eine neue Medien-Aufklärung! Wir sind auf dem besten Weg, Mündel der Algorithmen und der digitalen Technik zu werden und haben es selbst verschuldet. Es ist zum Heulen. Warum rennen wir allem hinterher, was das Leben vermeintlich leichter macht, obwohl höchstens die Entwickler der Anwendungen verstehen, wie die Technik funktioniert, wie sie arbeitet, wie sie lernt, wie beeinflussbar sie ist? Weil man es uns gut verkauft. Weil der Rubel rollen muss. Weil der Mensch bequem ist. Der Hype um manches Tool macht mich auch ganz einfach sprachlos. Da will mich ein Freund von WhatsApp überzeugen, „weil man da jetzt auch ganz einfach Sprachnachrichten verschicken kann“, und auf meine Feststellung, das sei doch auch nichts anderes, als jemandem auf den AB zu quatschen, ernte ich nur einen erstaunten Blick und ein leicht verzögertes „Äh, stimmt irgendwie.“

Ein anderer Freund nannte mich neulich tatsächlich liebevoll „Zukunftsverweigerer“, weil ich mit meinem Telefon ausschließlich telefonieren und Nachrichten verschicken kann. Als säße ich in einer Jurte und würde Rauchzeichen senden! Bedeutet, mit der Zeit zu gehen, kritiklos alles anzuschaffen, was diese Zeit auf den Markt schmeißt?

Und was passiert da eigentlich in unserem Schädel? In Bereichen des Gehirns, die nicht genutzt werden, werden Synapsenverbindungen aufgelöst oder entwickeln sich erst gar nicht. Wie viele einst gehirngespeicherte Daten liegt heute auf digitalen Speichern? Was macht das mit unserer Gehirnanatomie? Die Protz- und Prahldrüse ist in Zeiten von Instagram sicher bereits jetzt um durchschnittlich 78% gewachsen.

Jetzt habe ich Hunger. Ob noch Spreewaldgürkchen im Kühlschrank sind? Ich lass mich überraschen!

Viele Grüße!

Deine Anne

P.S.: Dieser Text ist vorsichtig SEO-optimiert, aber immer noch orange.

Brief No. 8 – Fünf Wege, wie Sie garantiert verdummen

Liebe Anne, Vorsicht! Dieser Brief ist SEO-optimiert. Nimm Dich also in Acht: Du könntest beim Lesen verdummen.

“Das Fokus-Keyword scheint im ersten Absatz des Textes nicht vorzukommen. Stelle umgehend sicher, dass das Thema klar ist”, rief mir das SEO-Tool zu, als zwischen der Anrede dieses Briefes und dem ersten Satz noch ein Absatz war. Zack, Absatz gelöscht, SEO-Tool zufrieden. Verzeih mir bitte diesen Formfehler. Google ist schuld.

“Diese Seite enthält keine Bilder, füge ggf. welche hinzu.”

“Es gibt keine internen Links auf dieser Seite. Überlege dir, geeignete hinzuzufügen.”

Verdummen

Verdummen: So sehe ich aus, wenn ich eine Tasse halte und langsam verdumme

Ha, gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen!

Ich kann Deinen Frust über das SEO-Diktat verstehen. Mir wird vom Tool regelmäßig vorgeworfen, dass ich zu viel indirekte Rede verwende. Ich verwende fast nie indirekte Rede, aber ziemlich viele Relativsätze. So viel grammatische Präzision muss schon sein. Oder mir wird vorgeworfen, dass ich mehrere aufeinanderfolgende Sätze mit demselben Wort beginne. Im Deutschunterricht zählte das noch zu den zu paukenden rhetorischen Mitteln und hieß “Repetitio”. Heute ist es aus SEO-Sicht ein Zeichen für minderwertige Textqualität.

Zwischenüberschriften helfen garantiert beim Verdummen

Also streiche ich die stilistischen Wiederholungen, füge Zwischenüberschriften ein, damit meine Leser zielgerichtet den Textausschnitt finden, der die für sie relevanten Informationen enthält, und nehme ihnen damit die Chance, etwas dazuzulernen, neue Perspektiven einzunehmen und von dem überrascht zu werden, was in den vermeintlich irrelevanten Absätzen meiner Texte steht.

Google und Co. würden wahrscheinlich entgegnen, dass ihre Algorithmen zwischen gutem und bösem SEO unterscheiden können. Dass sie Clickbaits und Suchmaschinen-Spamming ebenso abstrafen wie wir.

In der Tat habe ich im Laufe der Zeit für mich einen Weg gefunden, akzeptable SEO-Werte zu erreichen, ohne meinen Anspruch an gute Texte zu verraten. Es ist ja wirklich möglich, kürzere Sätze zu bilden, ohne dass der Sinn des Textes entstellt wird. Es ist für den Leser vielleicht wirklich interessanter, wenn der Beitrag ein Bild enthält. Und Zwischenüberschriften können längeren Texten eine nützliche Unterstruktur verleihen – wenn sie klug gewählt sind. Es ist also möglich, gute und SEO-kompatible Texte zu schreiben.

Fragt sich nur, warum es dann die Clickbaits trotzdem gibt…? Liegt es an unserem Mangel der Entschließung und des Mutes, uns unseres eigenen Verstandes zu bedienen? Brauchen wir eine neue Aufklärung, in der es nicht um die Emanzipation von staatlicher, sondern technischer Bevormundung geht? Oder sind wir es selbst, die uns bevormunden?

Ich finde, er liest sich gar nicht so schlecht, der SEO-optimierte Brief. Und wenn jemand “verdummen” googelt, hat mein Beitrag eine Chance, gefunden zu werden. Nur, dass der Leser nicht erfährt, über welche fünf Wege er garantiert verdummt. Schade. Aber so ist das eben mit den Clickbaits. Noch sind wir Menschen schlauer als unsere Maschinen.

Triumphierend grüßt Dich

Deine Anne

P.S. Der Sonntagskrimi war, glaube ich, ganz unterhaltsam. Ich bin aber nicht mehr so richtig reingekommen und habe stattdessen über etwas sinniert, das mir inzwischen wieder entfallen ist. Vielleicht probiere ich es nächstes Mal mit Homeland. In der Hoffnung, dass ich dann noch schlafen kann.

Brief No. 7 – Clickbait

Liebe Anne,

wie war der Sonntagskrimi? Hier gab es Sonntag die letzten Folgen der 7. Staffel Homeland. Ich bin ein absoluter Serienfan, das weißt Du ja. Ich glaube, Ihr schaut amerikanische Serien auch immer auf Englisch, oder? So kann man auch ohne rot zu werden rechtfertigen, dass man sich selbstverständlich ausschließlich zu Bildungszwecken vor den Bildschirm haut. Hey, Sonntagabend und wir tun reichlich für unseren passiven Wortschatz! So gehe ich dann zufrieden, weil fortgebildet ins Bett und schlafe sehr schlecht, weil Homeland ja nicht Inga Lindström ist, und in einem halben Jahr, wenn die neue Staffel rauskommt, habe ich alles, aber auch wirklich alles vergessen und mein Mann, der in ausgewählten Bereichen (Serien. Fußball. Fußnoten.) ein fotografisches Gedächtnis hat, muss mir minutiös alle Details erklären.

Wenn ich mir jetzt diesen Absatz oben noch einmal durchlese, weiß ich, was gleich kommt. Überall im Dashboard rote Hinweise, die mich schelten, weil ich SEO-technisch wieder alles falsch gemacht habe. Ich soll weniger schreiben. Ich soll weniger das Passiv verwenden. Ich soll Zwischenüberschriften einbauen. Ich soll aussagekräftige Keywords wählen. „Vorschriften, Vorschriften, Vorschriften!“*

Und warum? Weil für alle Welt inklusive ihrer Algorithmen Klicks die wichtigste Währung geworden sind. Wurscht, wenn es sich scheiße holprig liest. Wenn schon im ersten Absatz eines Onlinebeitrags ständig irgendwelche Schlagwörter runtergerattert werden, ist meine Tendenz, die Seite wegzuklicken, sehr hoch. Weil es unmöglich klingt. Und weil ich das Gefühl habe, manipuliert zu werden. Denn aus welchem Beweggrund schreibt der Autor hier? Will er einen guten Text mit Informationsgehalt liefern? Oder geht es in erster Linie um Klicks und weniger um die Substanz? Wenn mir in den ersten Sätzen sieben Mal „echte Insider-Tipps für Köln und Umgebung“, um die Ohren fliegt, weil ich auf der Suche nach einer hübschen Sonntagsdestination war, bin ich raus.

Es gibt Ausnahmen, natürlich. Blogs, bei denen die Autoren verstehen, SEO einzubinden und ihrem Schreibstil treu zu bleiben. Aber die allgemeine Entwicklung im Onlinejournalismus macht mir Sorgen. Kompromittieren wir unseren Anspruch daran, was ein guter Text ist, der zudem angenehm zu lesen ist, zugunsten von Klicks?

Und sind wir wirklich bereit, uns von Maschinen diktieren zu lassen, wie wir Informationen auswählen, aufbereiten und präsentieren? SEO ist die eine Seite. Wie und mit welchen Themen man uns im Netz zu fangen versucht, ist die andere. Und sie birgt Abgründe.

„Damit ist Trump zu weit gegangen!“

„Clickbait“ ist für dieses Phänomen ein schöner Begriff. Gibt es dafür eigentlich einen deutschen Ausdruck? Klick-Köder? Headlines, auf die man klicken müssen soll. Weil sie so spektakulär sind. Der Anschein, spektakulär zu sein, eint sie. Gemein haben sie auch, dass sie in 99% der Fälle vollkommen sinnentleert sind.

„Flugzeugabsturz wurde gefilmt!“

Dabei handelt es sich nicht um die Kategorie der Fake-News, um bewusst gestreute Nachrichten, die jeder Grundlage entbehren und die ihren potentiell explosiven Charakter entfalten, wenn die Hintergrundrecherche, sagen wir: dürftig ausfällt. (Nähere Informationen zum Thema erhält der geneigte Leser übrigens auch in Homeland 7, Episode 9, und jetzt atmen wir alle mal kollektiv durch und hoffen, dass das Szenario dort wirklich nur Fiktion ist).

„Herzogin Kate – das Drama um ihre Familie!“

In der Masse geht es bei den Headlines um Informationen, die keine sind.

Ich nenne sie No-News.

„Damit hätte Neuer nicht gerechnet!“

Sie sind überall. Sie scrollen an uns vorüber, wenn wir auf gängigen Portalen unterwegs sind. Sie geben sich als Nachrichten aus, sind aber eigentlich Werbung. Ich empfinde sie als beleidigend. Weil sie die User für den Preis von ein paar Klicks für dumm verkaufen wollen. Der Informationsgehalt ist gleich Null, stattdessen werden Emotionen bedient.

„Was wir über den Anschlag wissen und was wir nicht wissen.“

Besonders problematisch: Oft sind die Headlines hierarchielos zwischen Informationen mit tatsächlichem Nachrichtenwert eingebettet. Das politische Schicksal von Martin Schulz teilt sich ein paar Quadratzentimeter Bildschirmfläche mit dem ultimativen Tipp, wie wir unser Bauchfett loswerden, und das in sieben Tagen.

Muss man ja nicht anklicken? Nein, muss man nicht. Wer Medien kritisch nutzt, wird schön die Finger davon lassen. Aber wie sieht es mit weniger kritischen Zeitgenossen aus, allen voran Jugendlichen und Kindern? Wissen sie die Informationen in ihrer Relevanz zu unterscheiden? Ich bin skeptisch.

Und besorgt. Denn die Flut der No-News zeigt: Das Bedürfnis, das sie befriedigen, ist groß. User wollen sie lesen, sonst würden Journalisten nicht über sie schreiben – Nachfrage und Angebot. Woher kommt die Sensationslust, die Gier nach Halbwahrheiten, das Interesse an Nichtigkeiten, das Bedürfnis nach Entertainment? Haben wir nichts Besseres zu tun? Wir sind doch heute so busy, so wichtig, so gestresst, sollten wir unsere knappe Freizeit nicht auf Sinnvolleres verwenden? Stattdessen wird im trüben Seichten gefischt.

Oder ist genau das der Grund: Nach einem anstrengenden Tag abschalten und nicht nachdenken wollen, sich zerstreuen im Infotainment des www. Ich lass mich abends schließlich auch von Serien berieseln. Aber dabei ist klar: Dies ist Unterhaltung, die ich genau zu diesem Zweck wähle. Hier verwischen keine Grenzen zwischen Nachrichten, Fiktion, Sensation. DVD rein und Claire Danes brillieren sehen. Und inständig hoffen, dass die Washington Post über die Abgründe, die sich dort auftun, immer nur im Kulturteil und nie in den Politnews wird berichten müssen.

Liebe Anne, das ist ein langer Brief geworden. Was denkst Du zu SEO-Optimierung und dem, was heute Nachrichten sind? Ersteres betrifft schließlich auch uns und liebe-anne.de. Auch wir möchten im Netz gefunden und gelesen werden. Wie wichtig sind uns Klickzahlen, wie wichtig Trends und Hashtags? Was bedeutet uns ein bestätigend grünleuchtendes Dashboard als Zeichen, dass wir suchmaschinentechnisch alles richtig gemacht haben?

Ich freue mich auf Deine Antwort und auf Deine Geschichte zum Thema Arzt und Patientin!

Deine Anne

P.S.: Matthias Koch hat in der #Landeszeitung Lüneburg vom 12. Februar 2018 sehr gute Worte zum Thema gefunden. Es lohnt sich, auf S. 18f. in „Die überdrehte Republik“ nachzulesen, wie sehr Sensationslust auch im politischen Fach das journalistische Handwerk bestimmt: „Für differenzierende Töne aber ist nur noch wenig Platz in der heutigen Medienwelt. Wie bei Facebook dreht nun auch der Rest der Welt den Daumen einfach rauf oder runter. Honoriert wird das Extreme, der Konflikt, die Kante. […] Klicks und Quoten, in elektronischen Medien laufend gemessen, werden nachweislich eher über unterhaltsame Elemente gesteigert als über alles andere. So wächst nach und nach das Risiko eines Abrutschens in Richtung einer fröhlichen Irrelevanz – dem aber ein großes Publikum bereitwillig folgt.“

 


* Alf.

Brief No. 6 – Geschichten, die die Welt verändern – Oder: ein Redaktionsplan

Liebe Anne,

es ist Sonntagabend und in einer halben Stunde fängt der Tatort an.

(Kommt heute überhaupt einer oder ist einer dieser tristen Polizeiruf-Abende, an denen man verzweifelt auf Rosamunde Pilcher aka Inga Lindström umsteigt, um sich am Ende zu ärgern, dass man nicht einfach gleich ein gutes Buch in die Hand genommen hat?)

Dein letzter Brief ist eine Woche her und seit einer Woche sammle ich (neben Pfandflaschen) Geschichten, die ich erzählen will. Geschichten, die eine neue Realität konstruieren, einen neuen Diskurs anstoßen, und – so sie geteilt werden – dem Widerstand gegen bestehende Bilder und Diskurse Macht und Wirkung verleihen. Wie großartig durch die Brille Foucaults doch die Chancen der sozialen Medien erscheinen! Und wie traurig es doch ist, dass sie momentan – so scheint es mir – ihre transformatorische Kraft bei weitem nicht entfalten, sondern stattdessen in Filterblasen den immer gleichen Leuten die immer gleichen Geschichten erzählen. So wird das nix mit dem gesellschaftlichen Fortschritt!

Was sind also die Geschichten, die ich erzählen will? Es sind bei weitem nicht nur Geschichten von Männern und Frauen. Es sind auch Geschichten von Ärztinnen und Patientinnen. Von Eltern und Kindern. Von Lehrern und Schülern. Vielleicht von Menschen und Maschinen. Von Politikern und Wählern. Von Faktenaufzählern und Geschichtenerzählern…

Es ist zum Beispiel die Geschichte von der Patientin, die ihrer Ärztin auf Augenhöhe begegnet und von ihr als mündiger Mensch beraten statt als unwissende Nutzerin eines Apparates namens Körper behandelt wird. Mehr dazu in einem meiner nächsten Briefe.

Jetzt hat der Tatort schon angefangen, daher verabschiede ich mich in den Ausklang des Wochenendes und wünsche Dir einen schönen Abend mit der ein oder anderen unterhaltsamen und vielleicht neuen Geschichte…

Deine Anne

P.S. Danke fürs Entstauben der Gehirnwindung hinten links. Ich habe mich sehr gefreut, dass Du meiner Einladung zum gemeinsamen Kramen in der Theoriekiste gefolgt bist und bin gespannt, welche Thoeretikerinnen und Philosophen uns auf unserer weiteren Reise noch begleiten werden.

 

Brief No. 5 – Von Foucault und Pfandflaschen

Liebe Anne,

Foucault! Und das (der?) am Sonntag! Da ist mir ja fast der Kakao aus der Hand gefallen, und wildes Kramen in der Gehirnwindung hinten links setzte ein. Und dann schreibst Du auch noch vertrauensvoll dazu, dass ich mich da sicher auskenne!  Ja, wie kann ich nun hier den Michel sinnvoll bemühen? Macht und Wissen? Geschlecht, Gender? Alles zusammen? Wahnsinn und Gesellschaft ist ja eher mein Steckenpferd, aber wahrscheinlich willst Du nicht darauf hinaus, wie wir in heutiger Zeit mit unseren Verrückten umgehen – auch wenn sich die Frage, ob wir als Gesellschaft eigentlich noch alle Latten am Zaun haben, durchaus hin und wieder stellen mag…

Na, also, dann versuch ich mich mal: Ein Foto ist erst einmal ein Foto. Es ist per se kein diskursives Element,  es ist aber fast immer, gerade in o.g. Kontext, in eine Narration eingebettet. Es ist der Diskurs über das Foto, d.h. der Sprech- bzw. Schreibakt unter Berücksichtigung des umgebenden Textes (der auf Instagram auch häufig nur aus Icons besteht, die wiederum durch Sprache interpretiert werden müssen), durch den wir unsere Realität konstruieren.

(Wirk-)Macht über das Subjekt erlangt das Foto durch die Praktik der Reproduktion, die die Grundlage für die Bildung normativer Ideale legt; in diesem Zusammenhang für die Bildung eines Ideals, das die (erfolgreiche) Frau beschreibt. Schöne Frau mit Heißgetränk vor Habitat-Wohnwand. Das sieht man fünfunddrölfzigmal und denkt, so müsse das Leben sein. Zu Hülf! Du fragst zurecht, wie wir da bitte wieder herausfinden, und zwar hurtig!

Widerstand ist laut Herrn Foucault dem System zwischen Macht, Wissen und Subjekt fest zugehörig. Wenn wir also darüber nachdenken, welche Berechtigung diese Fotos haben und sie in Frage stellen, gehen wir einen Schritt in die Richtung des Widerstands gegen stereotype Rollenbilder, den das System prinzipiell zwar vorsieht, der aber nur Macht und Wirkung entwickeln kann, wenn Netzwerke Wissen zusammenführen und der Widerstand sich durch Diskurs und Performanz etabliert.

Es ist genau, wie Du schreibst: Die Gesellschaft perpetuiert ihre Klischees durch die immergleichen Geschichten. Das zeigt sich in Change-Prozessen, die Du als Organisationsberaterin begleitest. Das zeigt sich auch im Kleinen, in Familienstrukturen. Die Rolle, die man hat, wird man kaum mehr los. Da kann man heute einen noch so aufgeräumten Vorratsraum haben, in Elternaugen bleibt man diejenige, die im zweiten Semester Pfandflaschen im Wert von 27,23 € hinter der Tür stapelte. Ohne Kästen. (Das war selbstverständlich nicht ich. Das war die Freundin der Cousine des Arbeitskollegen meines Großonkels.)

Lass uns also neue Geschichten erzählen, neue gute Geschichten. Anstöße geben, nachdenklich machen. Und unterhalten! Wir alle mögen Geschichten, nicht umsonst hat das Konzept des Storytelling so großen Erfolg. Dafür gibt es liebe-anne.de, unser kleines Grassroot-Movement. Und wer uns mag, klickt „Share“!

„Zuviel Idealismus!“, lacht da jemand höhnisch und klopft sich auf die Schenkel? Ach bitte. Sollten wir trotz steten Bemühens die Gesellschaft wider Erwarten nicht revolutionieren können, so haben wir zumindest mal wieder die Gehirnwindung hinten links entstaubt.

Es grüßt Dich herzlich

Deine Anne

P.S.: Heimlich träume ich von einem Foto, das uns beide vor einer kollabierenden Schrankwand mit 999 Büchern ablichtet. In Latzhosen und durchgetanzten Schläppchen.

Brief No. 4 – Weil wir uns nichts dabei denken

Liebe Anne,

Danke für Deinen letzten Brief und die lieben Wünsche. Nach Trüffelpasta und Weißwein – man gönnt sich ja sonst nix! – habe ich gestern noch schnell meine ersten Ideen für meine Antwort ins Handy getippt. Ich meine: Alles trifft zu. All Deine vorsichtig formulierten Hypothesen sind wahr.

Ja, es sind die Medien.

Ja, gebildete Frauen in einflussreichen Positionen werden gerne “verharmlost”. Was haben wir uns alle über Merkels Urlaubsfotos mit Käppi und Nordic Walking-Stöcken gefreut!

Ja, Tassen sind ein verbindendes, aber langweiliges Accessoire.

Ja, es hat sich niemand etwas dabei gedacht. Und alle denken sich etwas dabei….

Bestehende Bilder und mit ihnen gesellschaftliche Narrative werden gedankenlos übernommen. Schöne Frauen vor harmlosen Arrangements aus Designeraccessoires laufen auf Instagram eben richtig gut. Billy-Regale tauchen auf diesen Bildern nicht auf, weil sie auch ohne Influencer-Marketing gekauft werden. Und so verharren wir als Gesellschaft in den immer gleichen Rollenklischees. Weil wir uns seit Generationen dieselben Geschichten erzählen. In Kinderbüchern, in Kinofilmen, in Bildern.

Die dunkle Message ist das Ergebnis eben dieses nicht intentionalen eigendynamischen Prozesses.

Harmlos ist das nicht. Für Frauen ebensowenig wie für Männer. Vielleicht würde der ein oder andere Mann ja auch mal gerne eine Tasse halten?

Wie kommen wir da bloß raus? Was sagt z.B. Monsieur Foucault dazu? Ich glaube, da kennst Du Dich aus? Ich kann nur mit Luhmann aus zweiter Hand dienen.

Aus meiner Arbeit mit Unternehmen weiß ich, dass Wandel in sozialen Systemen kollektive Reflexion erfordert. Auch hier spielen Narrative und Bilder eine große Rolle. Unternehmen erzählen sich die immer gleichen Geschichten und verstellen sich damit den Blick auf notwendige Veränderungen. Erst, wenn die beteiligten Personen gemeinsam erkennen, wie sie sich selbst an der Umsetzung der angestrebten Veränderungen hindern, entsteht die Chance auf nachhaltige Veränderung. Ob sich das auf ganze Gesellschaften übertragen lässt? Und wenn ja, wie?

Nachdenklich räume ich meine Frühstückstasse vom Ikea-Tisch…

Deine Anne

P.S. Zepter und Kaiman fand ich schon ziemlich gut. Außerdem: Ein bis hundert Bücher. Ausgetanzte Schuhe. Eher Schläppchen oder Spitze? Ein Elefant. Ein Füller. Ein Merkel-Käppi? Und ein Glas Scotch… halt! Zwei.

Brief No. 3 – Raute oder Tasse, das ist hier die Frage!

Liebe Anne,

heute denke ich ganz besonders an Dich und hoffe, Du hast einen wunderbaren Tag! Hoch die… ähm… Tassen!

Über Deine Post habe ich mich sehr gefreut. Ich teile Deine Ansicht, dass die Tasse als Icon in den Fotos das Sanfte, Warme betont. Daran ist ja per se auch gar nichts verkehrt! Wenn ich in diesen Tagen nach Hause komme, mache ich mir eine Tasse Tee und verkrieche mich zwischen zwei Buchdeckeln. Wenn ich außer Haus schreibe (wie jetzt gerade!), dann steht neben meinem Laptop – genau wie Du sagst – ein Cappuccino. Aber wenn Du mich nun beschreiben müsstest und sagen würdest „Ja, die Anne, die trinkt unheimlich gern Heißgetränke“, dann würde ich zum Glas greifen. (Scotch.)

Problematisch wird es für mich, wenn die Tasse zum definierenden Moment wird, und meine Frage angesichts der vielen tassenhaltenden Frauen in den Zeitungen und Magazinen ist, wer für diese Inszenierung verantwortlich ist. Sind es die Frauen selbst, die sich diese Art von Darstellung wünschen? Kannst Du Dir vorstellen, dass Frauen, die mitten im Leben stehen, überlegen: „Ja, Mensch, was zeichnet mich wohl am ehesten aus? Ich hab’s, eine Tasse!“? Oder andersherum, glaubst Du, dass Frau Merkel einem Portrait in diesem Setting zustimmen würde? Bitte nicht. Raute ja, Tasse nein.

Sind es also die Medien, die die Frauen durch Tassen weichzeichnen möchten? À la: „Ja, die hat einen Master aus Yale und arbeitet für die US-Regierung, aber eigentlich ist sie ganz harmlos!“ Geht es um die mediale Verharmlosung von Frauen durch Tassen? Das wäre die besorgniserregende Interpretation.

Oder ist die Aussage vielleicht doch viel unschuldiger? Ist die Tasse ein verbindendes Element? Meint die Protagonistin mit der Tasse: „Ja, ich bin zwar Bestsellerautorin, aber eigentlich bin ich wie ihr da draußen eine ganz normale Frau, die Tee trinkt.“? Dann wäre die Tasse einfach ein langweiliges, aber ungefährliches Accessoire.

Ist die Geschichte möglicherweise ganz simpel: Hat sich dabei einfach niemand etwas gedacht? Hat irgendwer angefangen, tassenhaltende Frauen zu knipsen, und die Kollegen haben das übernommen, weil es ja auch superpraktisch ist, wenn das vor der Kamera leicht befangene Laienmodel was in der Hand hat, zum Dranfesthalten? Ist die Tasse nur bloßes Zufallsobjekt eines nicht intentionalen eigendynamischen Prozesses?

Oder lauert da noch eine ganz andere Message, eine dunklere, über die die hellen Vorhänge im Hintergrund dezent hinwegwehen? Die Fotos sind in der Regel exakt komponiert, das Fotoset eine Bühne: Die frischen Tulpen auf dem Tisch. Bücher und Magazine auf dem Kaffeetisch ordentlich aufgereiht. Die Designervase auf der Anrichte. Kissen, viele Kissen und eine Kaschmirdecke. So ein Foto sagt auch: „Ich bin beruflich erfolgreich und hab auch alles weitere im Griff. Mein Haushalt, schau hier. Habitat. Hermès. Und durchgesaugt ist auch“. Daraufhin wandert der Blick in die eigene Bude, Expedit leicht schief, keiner hat abgewaschen und der Scheck für den unterbezahlten Auftrag war auch nicht in der Post.

Da bleibt nur die Frage: Jetzt ‘nen Tee für die Nerven? Oder ‘nen Scotch? Oder einen Film mit Clooney?

Deine Anne

P.S.: Lass uns überlegen, welche Accessoires wir für den Fototermin für liebe-anne.de mitbringen!

Brief No. 2 – Der Griff zur Tasse…

Liebe Anne,

was für eine Ouvertüre! Sie gefällt mir. Politisch und lyrisch, humorvoll und voller Leidenschaft… Das wird gut.

Ich kenne die Tassen, die Du beschreibst. Sie werden gehalten von Frauen, die gesehen werden wollen, die etwas zu sagen haben, die den Schritt auf die Bühne wagen. Die aber, um auf dieser Bühne stehen zu dürfen, schön, warm, weich und weiblich sein müssen. Die sich unsichtbar machen, um gesehen zu werden. Um gemocht zu werden. Warm, wohlig, weich wie eine schöne Tasse Kaffee am Sonntagmorgen.

Sie werden gehalten von Frauen wie meiner Freundin, die sich neulich fragte, was ein Mann in ihrer Situation machen würde, als ihr die in Aussicht gestellte Führungsrolle plötzlich grundlos wieder entzogen und stattdessen einem Mann übertragen wurde.

Oder meiner anderen Freundin, die sich fragt, wie sie ihre beruflichen und mütterlichen Ambitionen unter einen Hut bringt, ohne auch nur auf die Idee zu kommen, das mit ihrem Mann zu besprechen. Weil sie es als ihre Aufgabe ansieht.

Oder meine ehemalige Arbeitskollegin, die ab dem ersten Ansatz von Babybauch plötzlich nicht mehr zu Meetings eingeladen wurde, weil sie ja “eh bald weg” ist.

Der Griff zur Tasse als gemeinsame weibliche Resignation? Zur Flasche wäre schließlich zu männlich.

Die Tasse steht aber vielleicht noch für etwas anderes. Wenn sie nicht gehalten wird, steht sie neben einem Laptop. In einem Café. Auf dem Beistelltisch. Dort, wo gut ausgebildete Frauen ihr Geld mit ihrem eigenen Business verdienen. Selbständig. Ohne das enge Korsett eines Nine-to-five oder Seven-to-ten-Jobs mit Präsenzkultur und gläsernen Decken. Im Home-Office oder am Café-Arbeitsplatz. Mit einer guten Tasse Cappuccino – vom Barista frisch aufgebrüht und mit Liebe verziert.

Sie greifen zur Tasse, weil sie es können.

Santé!

Deine Anne

P.S. Clooney hält seine Tasse anders. Selbstbewusst, männlich, mit frontalem Blick in die Kamera. Er setzt die Tasse in Szene. Nicht die Tasse ihn.