Kategorie: Medien

Brief No. 24 – Zufall Mensch

Liebe Anne,

Kakao trinkt er also, der Herr Präsident. Jetzt wissen wir’s. Das finde ich durchaus erstaunlich, habe ich doch neulich erst erlebt, wie ein deutscher Gast in einem amerikanischen Lokal “cold cocoa” zu bestellen versuchte. Er bekam: Ein Glas Coke. Mit Eis.

Wie gern würde ich nun erzählen, dass die Kellnerin die Bestellung in ein digitales Gerät eingetippt hatte, das “cocoa” nicht als Auswahlmöglichkeit anbot. Für einen kurzen Moment war ich versucht, mir diese künstlerische Freiheit zu nehmen und auf diese Weise einen anekdotischen Beweis für Deine These vom spitzen Stift und den gespitzten Ohren zu liefern. Aber so war es einfach nicht. Die Kellnerin hatte ganz klassisch mit Zettel und Stift notiert, was sie gehört zu haben glaubte.

Szenisch:

Im Restaurant irgendwo im Mittleren Westen Amerikas.

Auftritt Kellnerin mit Haaren wie Cindy Lauper.

Kellnerin (zückt Block und Stift, while chewing gum): What would you like to drink?

Deutscher Gast: Äh… cold co-coa, please!

Kellnerin: Is Pepsi okay?

Deutscher Gast: No… äh… cocoa…

Kellnerin: So no Pepsi?

Deutscher Gast: No, I mean cocoa! Like… (wendet sich hilfesuchend seiner neben ihm sitzenden Freundin zu.)

Freundin: Pepsi is fine, thanks!

 

MÖÖÖP! Was ist da passiert? Waren die Ohren der Kellnerin etwa mit Kaugummi verklebt?

Und die der Freundin?

Vermutlich wollte letztere einfach schnell die für alle Beteiligten somehow awkward situation beenden. Es war schließlich schon spät, die Küche des Lokals schloss bald und die fünfköpfige Reisegruppe brauchte dringend etwas zu essen. Da musste der ausgefallene Getränkewunsch des Freundes dem Gemeinwohl untergeordnet werden.

Ob Kaugummi oder unangenehme Situation, die Damen hatten ihre Ohren nicht richtig gespitzt. Wäre das mit spitzem Stift anders gewesen?

Möglich.

Auch ich schreibe gerne mit der Hand. In Vorträgen und Gesprächen hilft mir handschriftliches Mitschreiben beim Zuhören. Seit Kurzem schreibe ich allerdings nicht mehr auf Papier, sondern mit tintenlosem Stift auf einer spiegelglatten Scheibe. Handschrift goes digital. Obwohl… ist das wirklich digital?

Das Schreiben mit der Hand – ob auf Papier oder auf Scheiben – ist etwas völlig anderes als das Tippen auf einer Schreibmaschine oder einem Touchscreen. Ich übertrage das Gehörte in Bewegungen, zeichne geschwungene Linien, beobachte ihre Entstehung und verleihe ihnen die Bedeutung des geschriebenen Worts. Bin eingebunden in Raum und Zeit, als Einheit von Körper und Geist. Wie ein Tanz.

Beim Tippen drücke ich auf einen Knopf und ein ganzer Buchstabe erscheint. Sofort. Es ist eine mechanische Tätigkeit. Ich passe mich der Maschine an, nicht die Maschine sich mir. Genau wie Herr D. es in seinem Leserbrief beschreibt.

Mein elektrifizierter Schreibblock ist da anders. Das einzige, was mir beim Schreiben fehlt, ist der Widerstand des Papiers. Das leichte Kratzen von Feder oder Mine auf der Oberfläche. Das rhythmische Geräusch, die Musik zu meinem Tanz. Sie ist eine andere. Leise macht es “klack, klack, klack”, wenn ich den Stift aufsetze. Die Ballerina wird zur Stepptänzerin.

Während ich schreibe, leuchten die Meldungen sozialer Medien-Apps auf: “Peter K. hat dich in einem Kommentar erwähnt.” – “Katja B. hat seit längerer Zeit etwas getwittert.” – “Amir C. hat einen neuen Job.”

Ich werde über andere informiert. Mit-einander reden, das geschieht in der Tat sehr selten in den sogenannten sozialen Medien.

Und noch etwas fehlt: Das Unerwartete. Das Zufällige. Das, was nur passiert, wenn echte Menschen aufeinander treffen. So wie die Drei aus unserer Restauranszene. Der Algorithmus hätte unserem deutschen Gast den Kakao schon gebracht, bevor er selbst gewusst hätte, dass er ihn will. Jetzt muss er Pepsi trinken. So ist das manchmal auf Reisen. Oder beim Steinesuchen im Wald, wie Herr D. so schön schreibt: Es macht “Lust auf die nächste Zukunft.”

Kommt uns diese Lust abhanden in einer vorausberechneten Welt? Oder entsteht vielmehr eine Sehnsucht nach Überraschendem?

Ich jedenfalls freue mich auf Deinen nächsten Brief, liebe Anne, und bin gespannt, womit Du mich diesmal überraschst!

Alles Liebe
Anne

Brief No. 23 – Spitzer Stift, gespitzte Ohren.

Liebe Anne,

oha. Miteinander reden. Zuhören. Da hast Du aber ein Fass aufgemacht. Mein vom Urlaub noch sandverkrustetes Hirn (jetzt echt mal! Strandsand kriecht einfach überall hin!), dessen herausforderndste Aufgabe in der letzten Woche darin bestand, die Strandmuschel vor den Augen schadenfroh lauernder Kurgäste lässig in den Strandmuschelsack zu falten („Schafft sie es? Schafft sie es?”), muss jetzt erstmal warmlaufen, um Deinen Gedanken würdig zu begegnen.

Wait for it…

Loading…

Still loading…

*Fahrstuhlmusik*

Updating, please wait…

Thank you for your patience!

Jetzt.

(Vielleicht.)

 

Liebe Anne,

oh ja.

Miteinander reden.

Das ist ein großes Thema, tagesaktuell und hochpolitisch, im Kleinen wie im  Großen, und mit erstaunlichen Parallelen auf allen Ebenen!

Da ich mich gerade als Dramaturgin übe, möchte ich das mal szenisch darstellen:

 

Szene 1

Am Frühstückstisch.

Auftritt Kind mit Haaren wie Vogelnest.

Mutter: Guten Morgen, Kind. Kakao?

Kind: Die Lilly hat viel mehr Barbies als ich.

Mutter: Hier, mein Schatz. Reicht Kakao. Ist der Schulranzen gepackt?

Kind: Schlürft Kakao. Ich spare jetzt auf die Meerjungfrauenbarbie mit Leuchtflosse.

Mutter: Prima. Kämm dich noch, bevor du losgehst, ja?

Kind: schlürft Kakao, grunzt Unverständliches.

Mutter: Du musst dich ein bisschen beeilen, es ist schon Viertel vor. Die Bürste liegt auf der Kommode im Flur.

Kind steht widerwillig auf und verlässt die Küche.

Wiederauftritt Kind.

Mutter: Du siehst ja immer noch wüst aus. Du solltest Dich doch kämmen!

Kind: Haste nicht gesacht.

Mutter: Hab ich.

Kind: Und wo ist bitteschön die Bürste? Immer musst du mich so hetzen. Und zu trinken hatte ich auch noch nix.

 

Szene 2

Am Frühstückstisch.

Auftritt Präsident mit perfekt geföhnten Haaren.

Stabschef: Good Morning, Mr. President. Hot Cocoa?

Präsident: Good morning. I am tremendously awesome.

Stabschef: Of course, Sir. Here, enjoy your cocoa.

Präsident: So awesome. Schlürft Kakao.

Stabschef: Certainly, Sir. May I give you your morning briefing?

Präsident: I’m gonna buy Greenland.

Stabschef: Wonderful, Sir. Now, as for Great Britain…

Präsident: I’m gonna grab Greenland by the pussy.

Stabschef: I’m sure, Sir. Yesterday, the Brexiteers…

Präsident: I’m gonna paint Greenland yellow. Just because I can.

Stabschef: Absolutely, Sir. May I now shift your attention to Europe?

Präsident: Europe? Why, is it for sale, too?

 

Die Familienszene ist bis auf leichte Schrammspuren am mütterlichen Nervenkostüm harmlos. Die Präsidentenszene ist es nicht. Satire hin oder her – es ist inzwischen vorstellbar, dass es im Weißen Haus genau so zugeht. Just because he can.

Und dazwischen, in der Kommunikation zwischen Fremden und Freunden, im  alltäglichen Miteinander? Wie Du beobachte ich, dass Menschen zunehmend im Sendemodus herumspazieren. Alle sabbeln, aber kaum einer hat seine Antenne auf Empfang gestellt. Bei Kindern ist das noch entschuldbar: verkürzte Aufmerksamkeitsspanne und allgemeines Morgenmuffeltum oder im ungünstigen Fall beides in Kombination.

Bei Erwachsenen gibt es keine Entschuldigung. Aber es gibt eine Erklärung. Verantwortlich sind die sozialen Medien. Ja, es ist so simpel. Soziale Medien sind nämlich null sozial. Sie sind Plattformen der Selbstinszenierung, die unser Feedbackvermögen auf einen Buttonklick reduzieren. Wir verlieren die Fähigkeit zuzuhören, weil unser Hirn sich daran gewöhnt hat, nur noch Ultrakurzrückmeldungen in Form von Daumen-, Herzchen- oder Smiley-Icons zu verarbeiten.

Alle wollen guten Empfang, aber keiner will zuhören.

Austausch kann man das nicht mehr nennen.

In den sozialen Medien werden wir vielleicht gesehen, wenn wir uns brav algorithmuskonform verhalten, aber wir werden nicht erkannt. Dafür braucht es den persönlichen Kontakt, für den wir uns Zeit nehmen müssen. Einen gemeinsamen Kaffee, zum Beispiel. Oder einen Brief.

Am Sonntag haben wir unseren ersten Leserbrief auf liebe-anne.de erhalten. Auf unseren Leserbriefschreiber, Herrn D. aus D., wirkt das Briefeschreiben wie eine „Lüftung von unerwarteter Seite“. Herr D., Hut ab! Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen, und zwar in mehrfacher Hinsicht:

In Ermangelung eines eigenen Büros bin ich heute im Baumarktcafé, um zu schreiben. Bereits auf der Radtour hierher wehte mir ein herbstkühles Lüftchen um Nase und Gedanken. Nun sitze ich hier neben einem Stapel Europaletten sowie festkochenden Kartoffeln im Tagesangebot, derweil Tiernahrung, Webergrills, Haustüren, Palmen und Holzzuschnitt an mir vorbeigeschoben werden, was die Ideen auf ganz neue Weise anschaukelt. Das Baumarktpersonal guckt freundlich bis irritiert. Hier sitzt man nicht, um zu schreiben. Hier verschnauft man kurz mit vier Säcken Spachtelmasse und neun Fliesenpaketen auf der Sackkarre, um alles kurz darauf in den Kombi zu hieven und das Gästebad komplett in Eigenregie zu renovieren. Vielleicht hält man mich für einen Spion – wie aufregend! Wie erfrischend!

Und dann ist da natürlich mein Füller. Ich habe ihn mir kürzlich genau für solche Gelegenheiten wie diese gekauft. Ich schreibe meine Texte häufig händisch vor. Kein Kabel behindert meinen Radius. Mein Mann nennt dieses altertümliche Schreiben auf Papier „Denken mit dem Stift“, was dem durchdigitalisierten „Homunculus“ in seiner verzerrt-demütigen Haltung vor einem seiner zahlreichen Gadgets ein willkommenes Gegenbild ist.

Und so schreibe ich und denke dabei an Dich, wie Du gerade auf dem Weg bist nach Bayern zu einem Termin, und ich überlege, ob Du wohl mit dem Zug gefahren bist, und ich frage mich, ob Du diesen Brief wohl heute noch lesen wirst. Und ich bin gespannt auf Deine Antwort, denn jetzt, genau in diesem Moment, „ist das Lauschen schon wichtiger geworden“, wie Herr D. es so schön beschreibt. Meine Gedanken sind auf den Weg gebracht. Ich freue mich schon sehr auf Deine!

Eine hinreichende Antwort, wie wir unser politisches System zum besseren diskursiven Miteinander bewegen können, kann ich abschließend leider nicht geben. Wer jedoch im Kleinen bei sich anfangen möchte gegenzusteuern, dem sage ich voll Überzeugung: Spitz den Stift, es spitzt die Ohren.

Alles Liebe

Anne

Leserbrief No. 1

Von: <dxxxxxxxxxxxx@gmail.com>
Gesendet: Samstag, 21. September 2019 22:47
Betreff: Liebe Anne “Ein Brief”

Nachrichtentext:

Sehr geehrte Damen,

wie fängt man an, wenn man nicht stören will?

Durch Parallelspiel, wie es im Kindergarten heißt? In etwas Abstand das Gesehene und Gehörte kopieren und versuchen, sich zu parallelisieren? Als sei man dabei? Oder abwarten in einer ruhigen Ecke? Durch rhetorische und halboffene Fragen? Vielleicht zuerst lauschend. Auf die Stimmen, die von Kaffee und Tauben erzählen. Eigentlich ganz sacht. Dabei fand ich darin Furor, nachdem ich seine Spur an anderer Stelle aufnehmen konnte. Bei Merkel und Macron beispielsweise.

Ich stelle mir vor, wie das Briefeschreiben aussieht. Digital und damit den Körper formend. Kopf, Finger, Tasten. Nicht in gerader Linie, sondern auf einen Bildschirm hin optimiert. Das immerhin ist etwas, das mich ärgert: Die Digitalität verformt meinen Körper. Die Anschlusskabel müssen zu Steckdosen, die mich – auf Knöchelhöhe angebracht – zu einem Homunculus verbiegen. Die transportablen Beamer wohnen auf Rollwagen, die mich einen Rollatorengang imitieren lassen, in Form und Geschwindigkeit. Die Kabel begrenzen meinen Aktionsradius wie Hundeleinen. Und zuletzt die Basiselemente der kosmischen Weltordnung. Sagen wir: Die Herbstsonne. Der Bildschirm zwingt mich, eine Seite wählen zu müssen: Für offene Fenster und natürliches Licht oder das Anrennen dagegen. Aus Sicht des Bildschirms ist die Welt Quasimodo.

Dabei lesen sich die Briefe ganz leicht. Eher stehend oder spazierend geschrieben. Und zugewandt. Aber auch etwas zu intim, um stören zu wollen. Also lieber kein Räuspern. Und wer so schreibt, ist durch ein gewinnendes Lächeln aus dem Off erst recht nicht zu beeindrucken. Zuhören und Weiterlesen? Ein vertrautes Flüstern. Gesprenkelt mit diesen leicht glucksend-kichernden Lauten, die nur einander schon gekannt Habende anstimmen können. Liest sich, also könnte die Fertigkeit des Briefeschreibens erhebend wirken. Und erfrischend. Es wird ein bisschen weiter, der Raum. Lüftung von unerwarteter Seite. So wie ich jüngst in einem Steinbruch war und Spuren aus dem Trias suchte. Oder der Kreidezeit. Weiß nicht mehr. Mit der Zeit verschob sich da diese Freude vom Stein in den Händen auf den nächsten, der noch irgendwo am Boden lag. Kennen bestimmt viele von klein an: dass so ein Suchspiel nagende Lust auf die nächste Zukunft gebiert. Dass irgendwann (nach Minuten) selbst das Hochheben des nächsten Steins fast schon eine bedrückende Störung ist. Erledigt und überwunden werden will. Weil es Zeit kostest, bevor der nächste Brocken gefunden und untersucht werden kann. Es reißt einen voraus, denn es wird Aufregendes kommen.

Wenn es gelingt, ist das Schreiben einer Nachricht also eher die eigene Vorbereitung und das Erwarten einer Antwort. Das immerhin bleibt losgelöst von der ungesunden Sitzhaltung und den etwas plump auf der Tischkante ablegten Armen: Dass jeder Satz auch eine Erwartung beginnen lässt, die auf den Moment der Antwort zielt. Ein bisschen Ent-Bindung. Wie der Stein, den man in einen Brunnen wirft. Während er fällt, ist das Lauschen schon wichtiger geworden. Was gleicht kommt, hat die Oberhand gewonnen.

Mit Tassen geht das sicher auch.

Es grüßt voller Hochachtung

D.

 

Brief No. 22 – Miteinander reden

Liebe Anne,

die bewegenden Bilder vom Treffen Merkels und Macrons Ende 2018 in Compiègne scheinen ein halbes Jahr später fast schon vergessen. Ist die Szene noch glaubhaft, nachdem der deutsch-französische Schulterschluss sich jüngst in einem arhythmischen Tanz aufzulösen scheint? War es doch nur mediale Inszenierung? Mich hat die Innigkeit zwischen den beiden damals ähnlich berührt wie Dich. Und so besteht auch nach einer viel zu langen Briefpause eine unmittelbare Verbindung zwischen Deinem letzten und meinem jetzigen Brief.

Wir leben in einer global vernetzten Welt, können in lächerlich kurzer Zeit den Globus umrunden, sind virtuell permanent miteinander verbunden. Und doch scheinen mir die Grenzen zwischen Staaten und Kulturen, zwischen sozialen Schichten und politischen Positionen, Menschen hier und Menschen dort, immer massiver, solider, unverrückbarer zu werden.

Viel zu oft ist das, was wir „Gespräch“, „Diskussion“ oder „Debatte“ nennen, nichts weiter als ein verbaler Schlagabtausch, der die Beteiligten in ihren bestehenden Positionen bestärkt, statt echten Kontakt, Annäherung, Verhandlung oder gar Versöhnung zu ermöglichen.

In düsteren Momenten glaube ich, dass wir nicht einmal mehr den Unterschied sehen. Wir halten einander Referate und glauben, miteinander zu reden. Wir warten ab, bis unser Empfangsbehälter a.k.a. „Gesprächspartner“ zu Ende gesprochen hat, statt ernsthaft zuzuhören und das Gesagte zu verstehen, zu verarbeiten und weiterzudenken.

Was braucht es, um diesem Muster zu entkommen? Wie sehr taugt unser politisches System (noch) zum diskursiven Miteinander? Wie können wir Technologie nutzen, um echten gesellschaftlichen Fortschritt zu erzielen, statt bestehende Grenzen algorithmisch zu untermauern und Grauzonen abzuschaffen?

Braucht es erst eine Krise oder gar Kriege wie die zwischen Deutschland und Frankreich, um als Menschheit den nächsten Entwicklungsschritt zu tun? Wie lange wird es dauern, bis wir so innig verbunden sind wie Macron und Merkel für wenige Sekunden in Compiègne?

Nachdenklich grüßt Dich
Deine Anne

Brief No. 15 – Wer sind wir, wenn wir alles sind?

Liebe Anne,

mit großem Bedauern habe ich vom Ableben Eures Staubsaugroboters erfahren. Wie nur konnte er die Treppenstufe übersehen? Soll ich Dir für die nächsten Tage meinen Staubsauger leihen? Dem ist hier total langweilig. Nicht ausgelastet. Der Arme.

Deine Argumentation, dass wir über unseren Individualismus verlernen, Kompromisse zu schließen, finde ich sehr überzeugend. Schließlich sind wir alle heute etwas GANZ BESONDERES und deswegen haben wir auch ganz besonders Recht. Warum man deswegen so im Internet rumschreien muss, ist mir allerdings ein Rätsel. Aber wenn es eine Schwarmintelligenz gibt, gibt es vielleicht auch das Gegenstück dazu. Und wie nennen wir dieses Gegenstück nun politisch korrekt? Fällt Dir was ein?

Die 200 Frauen gucke ich mir gerne mit Dir an, zumal, wenn es dazu Scones gibt! Sich mit einem Wort zu beschreiben, wie es ihre Aufgabe war, finde ich aber ganz schön schwierig. Im Moment würde ich „hungrig“ sagen, aber ich glaube, das verfehlt vermutlich die Aufgabenstellung. „Suchend“ vielleicht, und das nicht, weil ich heute morgen meine Hose nicht gefunden habe.

Ist Dir mal aufgefallen, dass Frauen sich und ihre Vorlieben oft in Gegensätzen beschreiben, wenn mehr als ein Wort erlaubt ist? „Ich mag den Luxus eines schönen Spa-Hotels, aber ich gehe auch echt gerne campen.“ Oder „Mein Stil? Ich mixe handverlesene It-Pieces mit Vintage-Teilen vom Flohmarkt.“ Oder „Die Karriere ist mir megawichtig, aber irgendwann will ich auch Kinder.“ (Tic toc.)

Ist das individuell? Ist das unentschieden? Oder ist das angepasst? Denn so eckt Frau nie an. Man stelle sich vor, sie würde sagen: „Dolce, ich trage Dolce und sonst nichts!“ Dann ist sie sofort ein Luxusweibchen. Wenn sie sagt: „Meine Klamotten sind alle vom Flohmarkt“, befürchte ich gerümpfte Nasen bei einigen Geschlechtsgenossinnen. Mit dem Spruch „Ich will das dicke Geld verdienen“ ist sie die seelenlose Karrierefrau. Wenn sie sich allerdings um Kinder und Heim kümmert, vergammelt ihr Diplom gerahmt über der Wickelkommode.

Wollen wir alles sein, weil wir abschätzige Bewertungen befürchten?

Sind unsere Dualismen vorauseilender Gehorsam gegenüber den Erwartungen anderer?

Können wir uns tatsächlich nicht entscheiden?

Was ist man, wenn man alles ist?

Für heute befinde ich, dass mein Wort „schaffend“ sein soll. Nicht, weil ich besonders viel wegschaffen würde, nein, nein, leider. „Schaffend“ meine ich im kreierenden, realisierenden Sinn. Ich hoffe, mit diesem Brief einen kleinen Schritt in diese Richtung getan zu haben.

Welches Wort wählst Du?

Alles Liebe

Deine Anne

Brief No. 13 – Schwarz oder Weiß?

Liebe Anne,

vielen Dank für Deinen Brief, den ich sehr gern gelesen habe. Er brachte mich zum Nachdenken. Ich verfiel in Grübelhaltung. Drehte und wendete Gedanken über das Entweder-Oder-Oder-Oder-Oder-Oder im Konsum, in dem der Kunde, das Geld willig im Anschlag, vor einem Kilometer Ladenzeile voller Frühstücksflocken steht und eine Auswahl treffen soll. Und der, wenn er in der Unübersichtlichkeit des Angebots zu keiner Entscheidungsfindung gelangt, seine persönliche, handverlesene Müslimischung online ordern kann.

Dinkel, Roggen, Rosinen und Himbeeren? Oder doch Cranberries?*

Äußere Insignien von Individualität sind heute nicht nur willkommen, sondern gefordert – Instagram! – aber die Meinungsbildung soll besonders online bitteschön hübsch übersichtlich ausfallen. Es ist, wie Du es beschreibst: Daumen hoch, Daumen runter. Schnell geklickt, und weiter gehts.

Ist der Grund für fehlende Nuancen hier, dass ein personalisiertes Müsli weniger gefährlich ist als eine persönliche Meinung?

Sollten nicht unsere Erfahrungen, die wir sammeln, wenn wir über das unübersichtliche Meer der Möglichkeiten navigieren und Reize über Reize filtern, unser Gehirn auf das Erkennen und Anerkennen von Unterschieden und Feinheiten prägen, die auszumachen in den täglichen Entscheidungsprozessen heute eine so wichtige Rolle spielen?

Oder ist es genau andersherum? Läuft unser Hirn im schnelllebigen Alltag so hochtourig, dass wir nach dem Überblickbaren lechzen; nach dem, was klar zuordbar ist und in bekannte Kategorien fällt? Fallen wir aus Überforderung oder aus Bequemlichkeit auf Schwarz-Weißmalerei zurück?

Malen wir hier gar selbst Schwarz-Weiß? Finden wir Nuancen, wenn wir ein bisschen buddeln? Zum Beispiel in persönlichen Blogs und spezialisierten Foren, die natürlich nicht den Traffic und Einfluss generieren, wie es Mainstream-Plattformen vermögen?

Ich bin eindeutig pro Nuancen. Und ich freue mich, wenn es uns in unseren Briefen gelingt, viele unterschiedliche Schattierungen zu zeigen. Und wenn unsere Leser dazu in ihren Kommentaren beitragen, freuen wir uns umso mehr!

Anne, ich danke Dir für den Gedankenanstoß und bin neugierig auf Deine Einschätzung!

Alles Liebe

Deine Anne


*Das kann auch nach hinten losgehen. Studien haben ergeben, dass es so etwas wie eine Frühstücksflockenverwirrung gibt, bei der der Kunde, überwältigt vom Angebot, gar keine Entscheidung trifft und flockenlos abzieht, bevor er das vermeintlich Falsche kauft.

Brief No. 12 – Gefangen im Entweder-Oder

Liebe Anne,

aber natürlich haben wir einen Staubsaugerroboter! Seit Jahren! Wenn Du wüsstest, was wir sonst noch alles haben… Es würde mich nicht wundern, wenn nächstes Jahr zu Weihnachten Sophia einzöge. Aber da streike ich. Das geht zu weit! Entschuldige, dass ich Dir am Mittwoch einen Bericht über die neuesten Haushalts-Gadgets schuldig geblieben bin. Da hatten wir wohl wichtigere Themen zu besprechen 🙂

Gerade bin ich auf diesen Artikel im Tages-Anzeiger gestoßen: Eine Rezension des neuen Buchs Die große Gereiztheit von Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen, in dem er zu erklären versucht, wie oder weshalb Shitstorms entstehen. Unter anderem sei dies auf die unmittelbare mediale Nachbarschaft unterschiedlicher Meinungen zurückzuführen, die andauernd Kollisionen und Konflikte erzeuge.

Die unmittelbare Nachbarschaft von Meinungen erzeugt Konflikte. Das scheint mir erst einmal ganz natürlich zu sein. Seltsam erscheint mir die Art, wie wir im Netz und anderswo mit diesen Konflikten umgehen. Die einzig bekannte Konfliktlösungsstrategie scheint der Kampf zu sein, der erst dann endet, wenn es einen eindeutigen Gewinner und einen eindeutigen Verlierer gibt. Wenn der Shitstorm sein Opfer zu Tode getrampelt hat. Wenn eine endgültige Entscheidung getroffen wurde zwischen Position A und Position B.

Wie zur Bestätigung der These werde ich am Ende des Artikels gefragt:

Lesenswert oder nicht? Entweder-Oder. Entscheide Dich! Oder willst Du nachfolgenden Lesern etwa zumuten, sich selbst ein Urteil zu bilden? Ja oder Nein? Null oder Eins? Kind oder Karriere? Schokolade oder Vanille? Freizügigkeit oder Obergrenze? Wohlstand oder Selbstverwirklichung? Daumen hoch oder runter? GroKo oder AfD? Raute oder Tasse? Lasst uns abstimmen. Du musst Dich entscheiden. Jetzt!

Wo sind die Grautöne geblieben?, frage ich mich da. Wann und wie haben wir verlernt, Nuancen zu sehen? Das Wort “Digitalisierung” bekommt so noch eine ganz andere Bedeutung: Die Einteilung der Welt in Entweder-Oder. Dabei liegen die guten Lösungen meist irgendwo dazwischen.

Zeit für die Grübelpose…

Deine Anne

Brief No. 9 – Synapsenkollaps

Vielen Dank für Deinen Brief, liebe Anne! Ich habe ihn sehr gern gelesen, wenn er auch ein Clickbait der übelsten Sorte ist! Da wird man auf Deinen Beitrag geleitet, in der Überzeugung, nun endlich zu erfahren, wie man in fünf kurzen Schritten ordentlich verdummt, und dann ist da überhaupt gar keine Anleitung! Dann steht da intelligenter Kram! Große Enttäuschung. Aber ich kann helfen. Hier folgt also nun WIRKLICH ein Manual zur garantierten Verdummung. Und das tolle: Es besteht nur aus einem Schritt! Einem einzigen! Den kann sich jeder merken!

Schritt 1: Verlegen Sie Ihr Leben vom Analogen KOMPLETT ins Digitale.

Das war’s schon. Fertig. Befolgen Sie diesen einfachen Rat und Sie werden zuverlässig innerhalb nur weniger Wochen die Anzeichen eines sich anbahnenden Synapsenkollapses spüren.

Stellen Sie aber sicher, dass Sie auch wirklich JEDEN Bereich Ihres Lebens digital durchdringen.

Bereich Soziales:

Achten Sie darauf, mit Ihren Mitmenschen vorrangig über Social Media zu kommunizieren. Liken Sie wie wild und posten Sie auf Instagram täglich Fotos Ihres Frühstücks! Besonders wichtig ist es, auf wirklich allen Kanälen vertreten zu sein. Sie sind immer noch nicht bei Snapchat, der App für sich selbst zerstörende Videos, die man aber jederzeit abfilmen kann? Hoffungslos!

Bereich Einkauf:

Die Onlinemarketingspezialisten geben sich soviel Mühe, Ihr Verhalten im Netz zu tracken, deswegen machen Sie ihnen doch ruhig die Freude und kaufen Sie all Ihren Kram ganz bequem durch Klicks auf Werbeanzeigen, die – wie praktisch! Welch Zufall! – genau das anpreisen, was Sie vor einer Viertelstunde noch in die Suchmaschine gehackt haben.

Bereich Arbeit:

Schmeißen Sie Ihren Job und gründen Sie ein Online-Business, in dem Sie Geld mit E-Books im Selbstverlag und ähnlich nachhaltigem Quatsch verdienen. Tausende haben das schon vor Ihnen geschafft, und der Großteil von ihnen ist gerne bereit, sein Wissen durch einen Onlinekurs inklusive eines – huch! – E-Books gegen ein höheres dreistelliges Entgelt mit Ihnen zu teilen. Vorerfahrung ist überhaupt nicht nötig, nur „gaaaaanz viel Motivation und der feste Glaube an dein Produkt!“ Müssen Sie outsourcen, so stellen Sie ausschließlich virtuelle Assistenten ein (s. „Bereich Soziales“). Irgendein Geisteswissenschaftler wird sich schon finden, der zu Dumpingpreisen Ihre Texte lektoriert. Der ist wahrscheinlich gnadenlos überqualifiziert, hat aber sicher noch ein Tastenhandy, ist also selber schuld.

Bereich Bildung:

Der Erwerb von Wissen ist unnötig und nutzt das Gehirn ab. Wozu gibt es Suchmaschinen? Oberste Regel: keine Bücher! Noch einmal: keine Bücher! Bücher gefährden den Fortschritt der Verdummung ganz enorm. Sie nehmen Platz weg und haben die unangenehme Tendenz, vollzustauben. Sind Sie digitaler Nomade, werden Sie für Bücher ohnehin keinen Platz im Rucksack haben. Schauen Sie sich lieber ein niedliches Katzenvideo an, während Sie aufs Boarding für den Flug nach Ko Samui warten.

Bereich Organisation:

Alle Termine sind online in Clouds zu verwalten. So liegt Ihr Leben sicher gespeichert auf dubiosen Servern irgendwo im Ausland und kann ganz sicher nicht verlorengehen. Niemandem.

Bereich Technik:

Dass es technisch immer das Neueste vom Neuesten sein muss, versteht sich ja wohl von selbst, oder? Entscheiden Sie sich für die beliebten Apfelprodukte, werden Sie auf Neuerscheinungen (und Adapter) nie lange warten müssen. Geschenkt, dass das Synchronisieren der Daten die ganze Kalenderwoche 23 in Anspruch nimmt.

Bereich Gesundheit:

Betrachten Sie Natur und frische Luft mit großem Argwohn und turnen Sie, statt eine Runde durch den Park zu drehen, die Übungen des Instruktors ihres Online-Fitnessstudios vor dem heimischen Plasmabildschirm in der Sterilität Ihres Wohnzimmers nach. Ihr Fitnesstracker am Handgelenk wird Sie dabei genau überwachen. Sehr, sehr genau.

Bereich Haushalt:

Vernetzen Sie sämtliche Haushaltsgeräte mit Ihrem Smartphone und steuern Sie alles von unterwegs aus. Rolladen rauf, Rolladen runter. Ist unheimlich praktisch und garantiert sicher. Technik ist heutzutage schließlich unfehlbar! Und wann geht schon mal so ein Handy verloren? Oder kaputt, nachdem man die Zentralheizung gerade auf Vollbrütstufe ferngeregelt hat? Seien Sie darüber hinaus ganz vorn dabei, wenn es um intelligente Gadgets wie den Kühlschrank geht, der dem Smartphone erzählen kann, ob Butter einzukaufen ist oder die Spreewaldgürkchen alle sind. Spart alles Gehirnkapazität, die viel besser in Instagram-Frühstücksfotos und Katzenfilmchen investiert werden kann.

Eine neue Medien-Aufklärung

Anne, Du merkst, in mir schreit alles: JA! Wir brauchen eine neue Medien-Aufklärung! Wir sind auf dem besten Weg, Mündel der Algorithmen und der digitalen Technik zu werden und haben es selbst verschuldet. Es ist zum Heulen. Warum rennen wir allem hinterher, was das Leben vermeintlich leichter macht, obwohl höchstens die Entwickler der Anwendungen verstehen, wie die Technik funktioniert, wie sie arbeitet, wie sie lernt, wie beeinflussbar sie ist? Weil man es uns gut verkauft. Weil der Rubel rollen muss. Weil der Mensch bequem ist. Der Hype um manches Tool macht mich auch ganz einfach sprachlos. Da will mich ein Freund von WhatsApp überzeugen, „weil man da jetzt auch ganz einfach Sprachnachrichten verschicken kann“, und auf meine Feststellung, das sei doch auch nichts anderes, als jemandem auf den AB zu quatschen, ernte ich nur einen erstaunten Blick und ein leicht verzögertes „Äh, stimmt irgendwie.“

Ein anderer Freund nannte mich neulich tatsächlich liebevoll „Zukunftsverweigerer“, weil ich mit meinem Telefon ausschließlich telefonieren und Nachrichten verschicken kann. Als säße ich in einer Jurte und würde Rauchzeichen senden! Bedeutet, mit der Zeit zu gehen, kritiklos alles anzuschaffen, was diese Zeit auf den Markt schmeißt?

Und was passiert da eigentlich in unserem Schädel? In Bereichen des Gehirns, die nicht genutzt werden, werden Synapsenverbindungen aufgelöst oder entwickeln sich erst gar nicht. Wie viele einst gehirngespeicherte Daten liegt heute auf digitalen Speichern? Was macht das mit unserer Gehirnanatomie? Die Protz- und Prahldrüse ist in Zeiten von Instagram sicher bereits jetzt um durchschnittlich 78% gewachsen.

Jetzt habe ich Hunger. Ob noch Spreewaldgürkchen im Kühlschrank sind? Ich lass mich überraschen!

Viele Grüße!

Deine Anne

P.S.: Dieser Text ist vorsichtig SEO-optimiert, aber immer noch orange.

Brief No. 8 – Fünf Wege, wie Sie garantiert verdummen

Liebe Anne, Vorsicht! Dieser Brief ist SEO-optimiert. Nimm Dich also in Acht: Du könntest beim Lesen verdummen.

“Das Fokus-Keyword scheint im ersten Absatz des Textes nicht vorzukommen. Stelle umgehend sicher, dass das Thema klar ist”, rief mir das SEO-Tool zu, als zwischen der Anrede dieses Briefes und dem ersten Satz noch ein Absatz war. Zack, Absatz gelöscht, SEO-Tool zufrieden. Verzeih mir bitte diesen Formfehler. Google ist schuld.

“Diese Seite enthält keine Bilder, füge ggf. welche hinzu.”

“Es gibt keine internen Links auf dieser Seite. Überlege dir, geeignete hinzuzufügen.”

Verdummen

Verdummen: So sehe ich aus, wenn ich eine Tasse halte und langsam verdumme

Ha, gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen!

Ich kann Deinen Frust über das SEO-Diktat verstehen. Mir wird vom Tool regelmäßig vorgeworfen, dass ich zu viel indirekte Rede verwende. Ich verwende fast nie indirekte Rede, aber ziemlich viele Relativsätze. So viel grammatische Präzision muss schon sein. Oder mir wird vorgeworfen, dass ich mehrere aufeinanderfolgende Sätze mit demselben Wort beginne. Im Deutschunterricht zählte das noch zu den zu paukenden rhetorischen Mitteln und hieß “Repetitio”. Heute ist es aus SEO-Sicht ein Zeichen für minderwertige Textqualität.

Zwischenüberschriften helfen garantiert beim Verdummen

Also streiche ich die stilistischen Wiederholungen, füge Zwischenüberschriften ein, damit meine Leser zielgerichtet den Textausschnitt finden, der die für sie relevanten Informationen enthält, und nehme ihnen damit die Chance, etwas dazuzulernen, neue Perspektiven einzunehmen und von dem überrascht zu werden, was in den vermeintlich irrelevanten Absätzen meiner Texte steht.

Google und Co. würden wahrscheinlich entgegnen, dass ihre Algorithmen zwischen gutem und bösem SEO unterscheiden können. Dass sie Clickbaits und Suchmaschinen-Spamming ebenso abstrafen wie wir.

In der Tat habe ich im Laufe der Zeit für mich einen Weg gefunden, akzeptable SEO-Werte zu erreichen, ohne meinen Anspruch an gute Texte zu verraten. Es ist ja wirklich möglich, kürzere Sätze zu bilden, ohne dass der Sinn des Textes entstellt wird. Es ist für den Leser vielleicht wirklich interessanter, wenn der Beitrag ein Bild enthält. Und Zwischenüberschriften können längeren Texten eine nützliche Unterstruktur verleihen – wenn sie klug gewählt sind. Es ist also möglich, gute und SEO-kompatible Texte zu schreiben.

Fragt sich nur, warum es dann die Clickbaits trotzdem gibt…? Liegt es an unserem Mangel der Entschließung und des Mutes, uns unseres eigenen Verstandes zu bedienen? Brauchen wir eine neue Aufklärung, in der es nicht um die Emanzipation von staatlicher, sondern technischer Bevormundung geht? Oder sind wir es selbst, die uns bevormunden?

Ich finde, er liest sich gar nicht so schlecht, der SEO-optimierte Brief. Und wenn jemand “verdummen” googelt, hat mein Beitrag eine Chance, gefunden zu werden. Nur, dass der Leser nicht erfährt, über welche fünf Wege er garantiert verdummt. Schade. Aber so ist das eben mit den Clickbaits. Noch sind wir Menschen schlauer als unsere Maschinen.

Triumphierend grüßt Dich

Deine Anne

P.S. Der Sonntagskrimi war, glaube ich, ganz unterhaltsam. Ich bin aber nicht mehr so richtig reingekommen und habe stattdessen über etwas sinniert, das mir inzwischen wieder entfallen ist. Vielleicht probiere ich es nächstes Mal mit Homeland. In der Hoffnung, dass ich dann noch schlafen kann.

Brief No. 7 – Clickbait

Liebe Anne,

wie war der Sonntagskrimi? Hier gab es Sonntag die letzten Folgen der 7. Staffel Homeland. Ich bin ein absoluter Serienfan, das weißt Du ja. Ich glaube, Ihr schaut amerikanische Serien auch immer auf Englisch, oder? So kann man auch ohne rot zu werden rechtfertigen, dass man sich selbstverständlich ausschließlich zu Bildungszwecken vor den Bildschirm haut. Hey, Sonntagabend und wir tun reichlich für unseren passiven Wortschatz! So gehe ich dann zufrieden, weil fortgebildet ins Bett und schlafe sehr schlecht, weil Homeland ja nicht Inga Lindström ist, und in einem halben Jahr, wenn die neue Staffel rauskommt, habe ich alles, aber auch wirklich alles vergessen und mein Mann, der in ausgewählten Bereichen (Serien. Fußball. Fußnoten.) ein fotografisches Gedächtnis hat, muss mir minutiös alle Details erklären.

Wenn ich mir jetzt diesen Absatz oben noch einmal durchlese, weiß ich, was gleich kommt. Überall im Dashboard rote Hinweise, die mich schelten, weil ich SEO-technisch wieder alles falsch gemacht habe. Ich soll weniger schreiben. Ich soll weniger das Passiv verwenden. Ich soll Zwischenüberschriften einbauen. Ich soll aussagekräftige Keywords wählen. „Vorschriften, Vorschriften, Vorschriften!“*

Und warum? Weil für alle Welt inklusive ihrer Algorithmen Klicks die wichtigste Währung geworden sind. Wurscht, wenn es sich scheiße holprig liest. Wenn schon im ersten Absatz eines Onlinebeitrags ständig irgendwelche Schlagwörter runtergerattert werden, ist meine Tendenz, die Seite wegzuklicken, sehr hoch. Weil es unmöglich klingt. Und weil ich das Gefühl habe, manipuliert zu werden. Denn aus welchem Beweggrund schreibt der Autor hier? Will er einen guten Text mit Informationsgehalt liefern? Oder geht es in erster Linie um Klicks und weniger um die Substanz? Wenn mir in den ersten Sätzen sieben Mal „echte Insider-Tipps für Köln und Umgebung“, um die Ohren fliegt, weil ich auf der Suche nach einer hübschen Sonntagsdestination war, bin ich raus.

Es gibt Ausnahmen, natürlich. Blogs, bei denen die Autoren verstehen, SEO einzubinden und ihrem Schreibstil treu zu bleiben. Aber die allgemeine Entwicklung im Onlinejournalismus macht mir Sorgen. Kompromittieren wir unseren Anspruch daran, was ein guter Text ist, der zudem angenehm zu lesen ist, zugunsten von Klicks?

Und sind wir wirklich bereit, uns von Maschinen diktieren zu lassen, wie wir Informationen auswählen, aufbereiten und präsentieren? SEO ist die eine Seite. Wie und mit welchen Themen man uns im Netz zu fangen versucht, ist die andere. Und sie birgt Abgründe.

„Damit ist Trump zu weit gegangen!“

„Clickbait“ ist für dieses Phänomen ein schöner Begriff. Gibt es dafür eigentlich einen deutschen Ausdruck? Klick-Köder? Headlines, auf die man klicken müssen soll. Weil sie so spektakulär sind. Der Anschein, spektakulär zu sein, eint sie. Gemein haben sie auch, dass sie in 99% der Fälle vollkommen sinnentleert sind.

„Flugzeugabsturz wurde gefilmt!“

Dabei handelt es sich nicht um die Kategorie der Fake-News, um bewusst gestreute Nachrichten, die jeder Grundlage entbehren und die ihren potentiell explosiven Charakter entfalten, wenn die Hintergrundrecherche, sagen wir: dürftig ausfällt. (Nähere Informationen zum Thema erhält der geneigte Leser übrigens auch in Homeland 7, Episode 9, und jetzt atmen wir alle mal kollektiv durch und hoffen, dass das Szenario dort wirklich nur Fiktion ist).

„Herzogin Kate – das Drama um ihre Familie!“

In der Masse geht es bei den Headlines um Informationen, die keine sind.

Ich nenne sie No-News.

„Damit hätte Neuer nicht gerechnet!“

Sie sind überall. Sie scrollen an uns vorüber, wenn wir auf gängigen Portalen unterwegs sind. Sie geben sich als Nachrichten aus, sind aber eigentlich Werbung. Ich empfinde sie als beleidigend. Weil sie die User für den Preis von ein paar Klicks für dumm verkaufen wollen. Der Informationsgehalt ist gleich Null, stattdessen werden Emotionen bedient.

„Was wir über den Anschlag wissen und was wir nicht wissen.“

Besonders problematisch: Oft sind die Headlines hierarchielos zwischen Informationen mit tatsächlichem Nachrichtenwert eingebettet. Das politische Schicksal von Martin Schulz teilt sich ein paar Quadratzentimeter Bildschirmfläche mit dem ultimativen Tipp, wie wir unser Bauchfett loswerden, und das in sieben Tagen.

Muss man ja nicht anklicken? Nein, muss man nicht. Wer Medien kritisch nutzt, wird schön die Finger davon lassen. Aber wie sieht es mit weniger kritischen Zeitgenossen aus, allen voran Jugendlichen und Kindern? Wissen sie die Informationen in ihrer Relevanz zu unterscheiden? Ich bin skeptisch.

Und besorgt. Denn die Flut der No-News zeigt: Das Bedürfnis, das sie befriedigen, ist groß. User wollen sie lesen, sonst würden Journalisten nicht über sie schreiben – Nachfrage und Angebot. Woher kommt die Sensationslust, die Gier nach Halbwahrheiten, das Interesse an Nichtigkeiten, das Bedürfnis nach Entertainment? Haben wir nichts Besseres zu tun? Wir sind doch heute so busy, so wichtig, so gestresst, sollten wir unsere knappe Freizeit nicht auf Sinnvolleres verwenden? Stattdessen wird im trüben Seichten gefischt.

Oder ist genau das der Grund: Nach einem anstrengenden Tag abschalten und nicht nachdenken wollen, sich zerstreuen im Infotainment des www. Ich lass mich abends schließlich auch von Serien berieseln. Aber dabei ist klar: Dies ist Unterhaltung, die ich genau zu diesem Zweck wähle. Hier verwischen keine Grenzen zwischen Nachrichten, Fiktion, Sensation. DVD rein und Claire Danes brillieren sehen. Und inständig hoffen, dass die Washington Post über die Abgründe, die sich dort auftun, immer nur im Kulturteil und nie in den Politnews wird berichten müssen.

Liebe Anne, das ist ein langer Brief geworden. Was denkst Du zu SEO-Optimierung und dem, was heute Nachrichten sind? Ersteres betrifft schließlich auch uns und liebe-anne.de. Auch wir möchten im Netz gefunden und gelesen werden. Wie wichtig sind uns Klickzahlen, wie wichtig Trends und Hashtags? Was bedeutet uns ein bestätigend grünleuchtendes Dashboard als Zeichen, dass wir suchmaschinentechnisch alles richtig gemacht haben?

Ich freue mich auf Deine Antwort und auf Deine Geschichte zum Thema Arzt und Patientin!

Deine Anne

P.S.: Matthias Koch hat in der #Landeszeitung Lüneburg vom 12. Februar 2018 sehr gute Worte zum Thema gefunden. Es lohnt sich, auf S. 18f. in „Die überdrehte Republik“ nachzulesen, wie sehr Sensationslust auch im politischen Fach das journalistische Handwerk bestimmt: „Für differenzierende Töne aber ist nur noch wenig Platz in der heutigen Medienwelt. Wie bei Facebook dreht nun auch der Rest der Welt den Daumen einfach rauf oder runter. Honoriert wird das Extreme, der Konflikt, die Kante. […] Klicks und Quoten, in elektronischen Medien laufend gemessen, werden nachweislich eher über unterhaltsame Elemente gesteigert als über alles andere. So wächst nach und nach das Risiko eines Abrutschens in Richtung einer fröhlichen Irrelevanz – dem aber ein großes Publikum bereitwillig folgt.“

 


* Alf.