Brief No. 22 – Miteinander reden

Liebe Anne,

die bewegenden Bilder vom Treffen Merkels und Macrons Ende 2018 in Compiègne scheinen ein halbes Jahr später fast schon vergessen. Ist die Szene noch glaubhaft, nachdem der deutsch-französische Schulterschluss sich jüngst in einem arhythmischen Tanz aufzulösen scheint? War es doch nur mediale Inszenierung? Mich hat die Innigkeit zwischen den beiden damals ähnlich berührt wie Dich. Und so besteht auch nach einer viel zu langen Briefpause eine unmittelbare Verbindung zwischen Deinem letzten und meinem jetzigen Brief.

Wir leben in einer global vernetzten Welt, können in lächerlich kurzer Zeit den Globus umrunden, sind virtuell permanent miteinander verbunden. Und doch scheinen mir die Grenzen zwischen Staaten und Kulturen, zwischen sozialen Schichten und politischen Positionen, Menschen hier und Menschen dort, immer massiver, solider, unverrückbarer zu werden.

Viel zu oft ist das, was wir „Gespräch“, „Diskussion“ oder „Debatte“ nennen, nichts weiter als ein verbaler Schlagabtausch, der die Beteiligten in ihren bestehenden Positionen bestärkt, statt echten Kontakt, Annäherung, Verhandlung oder gar Versöhnung zu ermöglichen.

In düsteren Momenten glaube ich, dass wir nicht einmal mehr den Unterschied sehen. Wir halten einander Referate und glauben, miteinander zu reden. Wir warten ab, bis unser Empfangsbehälter a.k.a. „Gesprächspartner“ zu Ende gesprochen hat, statt ernsthaft zuzuhören und das Gesagte zu verstehen, zu verarbeiten und weiterzudenken.

Was braucht es, um diesem Muster zu entkommen? Wie sehr taugt unser politisches System (noch) zum diskursiven Miteinander? Wie können wir Technologie nutzen, um echten gesellschaftlichen Fortschritt zu erzielen, statt bestehende Grenzen algorithmisch zu untermauern und Grauzonen abzuschaffen?

Braucht es erst eine Krise oder gar Kriege wie die zwischen Deutschland und Frankreich, um als Menschheit den nächsten Entwicklungsschritt zu tun? Wie lange wird es dauern, bis wir so innig verbunden sind wie Macron und Merkel für wenige Sekunden in Compiègne?

Nachdenklich grüßt Dich
Deine Anne

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